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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

16. 1. 2011 - 21:34

Journal 2011. Eintrag 13.

TV & Qualität, Teil 2: an "The Wire" kann niemand vorbeileben.

Das Jahr 2011 bietet wieder ein Journal, ein fast tägliches, wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009.
300 Einträge werden zusammenkommen, vielleicht auch mehr. Dazu komplettieren 60 oder 70 Einträge ins Fußball-Journal '11 die diesjährige Blumenau-Show im Netz.

Meist wird es hier Geschichten/Analysen geben, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo gefunden habe; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute, aus Anlass der heute Nacht stattfindenden Golden Globe-Awards, bei denen auch die womöglich wichtigsten Fernseh-Preise vergeben werden: Teil 2 der kleinen Reihe über TV & Qualität, und zwar eine Hommage an das State-of-the-Art-Produkt dieser Kategorie - The Wire.

Heute Nacht matchen sich Dexter, Mad Men, Good Wife, Walking Dead und Boardwalk Empire um den Hauptpreis am Sektor der TV-Serien beim Golden Globe Award; und damit um die Nachfolge zu Columbo, Twin Peaks, NYPD Blue, X-Files, Sopranos oder Six Feet Under, aber auch um die Nachfolge zu Murder She Wrote, Dynasty, den Waltons, Grey's Anatomy oder 24, innerhalb einer Geschichte des ständigen Hin- und Herwogens zwischen Kunst, Kunstfertigkeit und Kommerz.

The Wire hat, aus vielen verschiedenenen, genrepolitischen Gründen, nie einen Preis dieser Kategorie gewonnen, auch keinen Emmy. Auch deshalb, weil sich The Wire, bei all der Qualität der erwähnten Sieger, doch deutlich darüber erhebt, und sich eine Erzählform, eine Direktheit und einem dramaturgischen Bogen anmaßt, der die Konventionen deutlich angreift. Das ist mit der Abneigung der Hollywood-Award-Vergeber gegen Chaplin, Hitchcock, Kubrick oder Fellini vergleichbar: wer allzu sehr verstört, lebt gefährlich.

Aber nur wer gefährlich lebt, wird etwas erfahren. Und wer an "The Wire" vorbeilebt, schwächt sein Mensch-Sein. Nicht weil es darum geht, sich sein Serien-Verhalten sauber zu gentrifizieren oder weil man es - vergleichbar mit dem Einmal-im-Leben-Krieg&Frieden-lesen - irgendwie "muss". Sondern weil die Serie als Leitfaden fürs Zusammenführen unterbeachteter Systeme ist, eine Denk- und Handlungsanleitung gegen ein naives, törichtes Leben, ein Eskapismus-Antidot.

This is the story of Bubbles and Omar...

Sich an The Wire heranzutasten ist gar nicht so einfach. Christian Fuchs beschreibt hier recht nachvollziehbar die Geschichte seines Scheiterns. Und ich muss zugeben, dass ich auch zwei Anläufe gebraucht habe um reinzufinden; in eine über 5 Seasons gehende Reihe, die in etwa 60 Stunden ein Panorama zeitgenössischer Stadtgeschichte, ein breites Panoptikum an menschlichen Verhaltensweisen und vor allem einen Überblick über die strukturellen Verbindungen zwischen allen Menschen einer großen Community und deren institutionelle Disfunktion ausbreitet, wie noch nie ein anderes Kunstwerk zuvor.

The Wire ist nie anmaßend, gleichermaßen witzig wie bösartig, sucht nie die billige dramaturgischn Hintertür und bietet die bestmögliche Auseinandersetzung mit Sprache/Kommunikation (und eine Lehrstunde für praktisches und lebendiges Amerikanisch). The Wire verschleppt keinen Handlungsfaden zugunsten von Effekten, verliert sich nicht in Atmo, Schnittschmähs oder Musik: man kommt, bis auf eine kurze Final-Dramaturgie am Ende jeder Staffel und das fünfmal (u.a. von Tom Waits, den Neville Brothers oder Steve Earle) variierte Titelstück, ganz ohne Score-Musik aus, verwendet nur die Sounds an den Orten des Geschehens.

Letztlich ist genau das die Herangehensweise des Projekt-Teams um Chefautor David Simon und seinen Co Ed Burns, einen Ex-Journalisten und einen Ex-Detective, die sich vor The Wire mit Dokus (Homicide) und Doku-Dramen (The Corner) befassten und die sich für die Drehbücher mit Autoren wie George Pelecanos, Richard Price oder Dennis Lehane verstärkten: ein trockener dokumentarischer Stil, der seinen Sound durch den unglaublichen Realismus der Dialoge, und sein Tempo durch die Handlungs-Orte (die Straße, der Drogen-Corner, die Polizeistation, den Hafen, das Rathaus, das Gericht, die Schule, die Zeitungs-Redaktion und nochmals durch die Straße) bekommt.

... of McNulty and Bunk...

Meine erste, abgebrochene, Begegnung mit The Wire waren zwei Szenen: eine spielte im Basement, in das man die Einheit, die sich um einen lokalen Drogenboss kümmern soll, versetzt hat. Das Klima in dieser Truppe: düster, ein wenig muffig, ohne Perspektive auf lässiges Cops-and-Robbers-Spiele. Danach kam eine Szene mit dem Drug-Friend Bubbles, einem Junkie, der sich durch sein kaputtes Leben hustlet und versucht bei seiner Schwester unterkommen, auch im Basement.

Mir waren da, beim ersten zufälligen Reinzappen via Pay-TV, zuviele Variablen dabei, die Unterhaltung gefährden können: der Blick aufs Giftler-Elend, der Blick hinter die Polizei-Fassade, keine klassischen Sympathieträger und das Wissen um das was Fuchs als selbstverständlich beschrieben hat (das keine Seite "gut" ist und dass alles mit allem zu tun hat).

Beim erfolgreichen Versuch des heurigen Sommers, die 5er-DVD-Box von The Wire" zu knacken, stelle ich fest, dass diese Szene etwa in Episode 3 oder 4 der ersten Season vorkommt, zu einem Zeitpunkt, wo ich bereits gekippt/überzeugt war.

Es ist 2002 und es spielt in Baltimore, Millionenstadt near Washington, trotzdem Provinz durch die Nähe zu Philadelphia und New York, hoher Anteil schwarzer Bevölkerung, verfallende Inner City, ein Hafen mit Problemen, sinkender Lebensstandard, hohe Kriminalität.

Der War on Drugs ist durch den War on Terrror abgelöst worden: es gibt kein Geld und keine Resourcen, Polizeiarbeit dient der Frisur von Statistiken.

... of Avon and Stringer...

Die, die sich abmühen, sind im Basement, unten. Bubbles der Junkie, Omar, der stick-up-man, der die Dealer bestiehlt und die halbherzig zusammengestellte Truppe rund um den mühsamen McNulty, der durch penetrantes Raunzen bei einem befreundeten Richter die Polizei-Instanzen dazu zwingt, eine Alibi-Aktion zu unternehmen.

Zu ebener Erde und im ersten Stock befindet sich die Dealer-Crew um Avon Barksdale und Stringer Bell, die ihr Hauptquartier in einem Soul-Club/Puff hat und ihren Stoff aus New York bekommt.
Und oben, in Räumen mit Aussicht, trohnt der Apparat: der slicke schwarze Bürgermeister, der korrupte Senator, die Polizei-Führung.

Alle verbringen sie ihr Tagwerk damit in erster Linie zu überleben, die einen buchstäblich, die anderen karrieretechnisch oder politisch. Für den Job, die Aufgabe (die sich an einem sehr amerikanischen Professionalismus ala Hawks orientiert) bleibt wenig Zeit und Raum. Das Bewirtschaftung des Systems frisst zuviel an Zeit und Energie - egal ob bei der Politik, den Authorities, den Stevedores in den Docks, den Dealern oder den Privatpersonen, den Hustlern.

Selbst die, die teilweise Idealismus in sich spüren wie Detective McNulty, Lieutenant Daniels, Staatsanwältin Pearlman oder Bürgermeister-Kandidat Carcetti - sie lassen sich vom Leben teilweise ordentlich abschleifen.

... of Prez and Dukie...

Man spricht gern und schnell von gebrochenen und vielschichtigen Charakteren, klar. Meist muss man sich die Wandlungen, die gern nur über schmal Erzähltes angerissen werden, mit dem Rückgriff auf eigene Erfahrungen dazudenken. Bei The Wire kann man den Charakteren dabei zusehen, wie sie langsam verrohen oder sich langsam in eine bestimmte Richtung entwickeln, quasi in Echtzeit - und auf einem Level, das ich weder aus dem Kino noch aus einer Serie kenne - und auch nicht aus der Literatur.

Schon gar nicht in dieser Häufung: bei The Wire existieren in der finalen Staffel fast schon an die 100 Figuren, die die eine oder andere Entwicklung durchmachen und sogar nach ihrem Tod nachwirken. Das ist der Grund dafür, warum diese Reihe das Gefühl vermittelt, dass man eine ganze Stadt kennengelernt hat. Weil es hier eben nich nur den einen Gangster, den einen Polizisten, den einen Politiker, den einen Lehrer, den einen Journalisten, ein Kid und eine Mutter gibt, in die dann die Real-Live-Erfahrungen dutzender Vorlagen verdichtet werden müssen, sondern weil auf jeder Ebene ein gutes Dutzend an Figuren/Schicksalen erzählt wird. Und das ohne dabei angestrengt und künstlich zuviel reinzustopfen.
The Wire lässt höchst selten Geschehnisse durch Zweithand-Erzählungen auftauchen, sondern blickt immer ins Zentrum des Geschehens und zeigt dann auch sofort immer die jeweiligen Auswirkungen.

... of Kima and Snoop...

Und genau das verschägt einem dann den Atem.
Bei Six Feet Under haben sich die Serien-Entwickler den Irrsinn geleistet eine der Hauptfiguren ein gewagtes Stück vor Serienende sterben zu lassen - und das hatte einen unglaublichen Effekt.
Mittendrin in The Wire erfährt eine ganz zentrale Figur, die man für unersetzbar hält, einen frühen Tod - und zum dramaturgischen Schock kommt auch noch der, der nach der Frage der Sinnhaftigkeit dieser Maßnahme überbleibt: dass nämlich nur der Tod dieser grandiosen Figur eine realistische Weiterführung des Plots (in diesem Fall der Linie die zwischen Drogenhandel und Politik spielt) ermöglicht; und eine politische Aussage trifft, die in ihrer Bitterkeit jedes Zuschauer-Leid um den Verlust einer tollen Figur weit übertrifft.

Ich könnte jetzt über die von allen real existierenden Referenzstellen ausgesprochenen Lobes-Bekundungen (egal ob von Anwälten, der Black Community, Polizei- und Polit-Vertretern) über den so noch nie zuvor gesehenen Realismus, über die an Naturalismus grenzende Wahrheitssuche und ihren Erfolg ausführen. Oder die Mischung aus Profi-Schauspielern, Neulingen wie Method Man oder Snoop Pearson und Amateuren wie den ehemaligen Polizeichef und einen ehemaligen Gangster-Boss aus Baltimore.

...of Bunny and Cutty...

Ich könnte jetzt noch dutzende andere Sub-Plots anführen, die sich weit über das Niveau aller anderen Serien erhebt: der ungemein selbstverständliche Umgang mit der sexuellen Orientierung, der Omar, den gewagtesten Gangster und Kima, die einzige in sich ruhende Polizistin als schwul bzw. lesbisch zeichnet, ohne auch nur den Hauch eines Bezugs herzustellen; oder die Frage nach dem richtigen Umgang mit dem Drogen-Problem, etwa nach einer Freigabe - wie in Major Colvins irrwitzigen Hamsterdam-Projekt; oder die Herrschaft des Rechenschaftsberichts, der Statistik, den Polls, nach der sich alles überall richtet - egal ob bei Polizei, Dealern, Schulsystem, Medien, Politik, Business; oder die vor allem in der 5. Staffel in den Fokus gerückten Situation der Medien, die den Zerfall alter Systeme am nachhaltigsten reflektiert; oder den emotionalen Höhepunkt, die vierte Staffel, in der das Schulsystem von innen ausgeleuchtet wird und sich zu einer Rettungsaktion auswächst, in der sich vier Proponenten bemühen, jeweils eine Seele zu retten und letztlich der Zufall entscheidet, wer dabei scheitert und wer nicht.

The Wire greift all diese Themen auf und stellt sie neben- oder hintereinander, auf dass es nicht nur erhellende Wirkung hat, sondern auch noch dramaturgischen Sinn bringt und, Extra-Bonus, auch noch witzig ist. Denn The Wire ist neben all den menschlichen Tiefen, der Gewalt und dem Druck auch noch etwas anderes: lustig. Wenn McNulty und the Bunk nachts auf die Bahngleise pinkeln, wenn in der Town Hall oder im Gericht die Dialoge tieffliegen, wenn Herc und Carver Scheiße bauen, wenn De'Londa ihren Sohn schikaniert, wenn sich Bubbles rausredet oder Omar seinen Code erklärt: das hat alles Schmäh. Auch wenn zwei Folgen davor oder danach das Leben dieser Charaktere gefährdet war.

...of Bodie and Wallace and many more...

Teil 1 von TV & Qualität, Der Serienboom findet kein Ende, der angekündigte Backlash nicht statt ist gestern erschienen.

Die fünf Staffeln von The Wire spielen 2002, 2003, 2004, 2006 und 2008 in Baltimore, Maryland und covert dabei das Drogenproblem, die Krise der alten Industrie, das Zusammenspiel von Polizeistruktur und Politik, das Schulsystem und die Medienkrise, und darüber hinaus schlicht und ergreifend das Leben.

Die Gesamt-DVD-Box von The Wire ist 2010 erschienen und mittlerweile um zirka 40 Euro, also dem Gegenwert von 4x Kino oder 8 Gin Tonics im Fluc zu erwerben, sehr okay für etwas, was dein Leben verändern kann, finde ich.

Ich bin oft halbe Wochen lang mit dem Nachhall von einzelnen Folgen oder Staffeln durchs Leben gelaufen, vergleichbar nur mit dem, was bei wirklich relevanten Reallife-Situationen in Familie, Freundes- oder Bekanntenkreis passiert - etwas, was etwa eskapistische Kunst, deren schrille Ornamentik gerne dazu dient, dich von dir selber abzulenken, niemals leisten kann. Und anders als bei 6FU oder den Sopranos, bei denen man in einen hochinteressanten, aber letztlich doch fremden Mikrokosmos blickt, eröffnet sich bei The Wire ein weites Feld an Übergriffen in deinen Alltag - auch wenn der ganz ohne Polizei, Gangster, Docker, Lehrer, Politiker oder Medien auskommt.

Jon Gnarr, der neue Bürgermeister von Reykjavik, ein Komiker und Kabarettist, der nach der Island-Pleite und dem nachfolgenden Vertrauensverlust an Politiker die Wahlen gewann (seine Frau ist Björks beste Freundin, zweiter Mann auf seiner Liste ist Einar Örn von den Sugarcubes), hatte bei seinen Koalitions-Verhandlungen eine Bedingung: die Partner müssten sich The Wire anssehen, alle 5 Staffeln.
Ich verstehe das. Ich würde das genauso machen. Und, insgeheim, mache ich das schon so: wer mit mir über Themen wie Stadtentwicklung, politische Verstrickung in Kriminalität, den moralischen Zerfall alter Medienstrukturen, Black America oder TV-Serien sprechen will, und angibt The Wire nicht zu kennen, kommt für Koalitionen welcher Art auch immer nicht in Frage.