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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

15. 1. 2011 - 20:54

Journal 2011. Eintrag 12.

TV & Qualität, Teil 1: Der Serienboom findet kein Ende, der angekündigte Backlash nicht statt. Oder: the Dickensian Aspect.

Das Jahr 2011 bietet wieder ein Journal, ein fast tägliches, wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009.
Da werden schon an die 300 Einträge zusammenkommen, vielleicht auch mehr. Dazu komplettieren die wohl wieder 65, 70 Einträge ins Fußball-Journal '11 die diesjährige Blumenau-Show im Netz.

Meist wird es hier Geschichten/Analysen geben, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo gefunden habe; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute, aus Anlass der morgen stattfindenden Golden Globe-Awards, bei denen auch die womöglich wichtigsten Fernseh-Preise vergeben werden: ein aktueller Blick auf den anhaltenden Boom der Qualitäts-Reihen und eine Analyse der im letzten Jahr versuchsweise herbeigeredeten Backlashs von Drama-Fiction in Serienform.
Davon, dass die komplex gesetzten Bögen dieser neuen epischen Form zum Äquivalent des bildungs-bürgerlichen Romans des 19. Jahrhunderts verkommen könnten, war die Rede. Oder auch fast schon irres Geschwätz von einem "wahren Wesen" des Fernsehens als kurzatmiges an reinem Massenkonsum orientiertes Medium, in dem allzu filmisches ein "Fremd"körper wäre.

Es hat doch länger als notwendig gedauert, bis das scheincineastische Naserümpfen über die TV-Serien-Produktion als das eingeschätzt wurde was es war: der schlichte Neid auf die neuen Möglichkeiten des Erzählens in Formaten, die einem (overall betrachtet) dramaturgische Bögen ermöglichte, die sich über viele Stunden hin bewegen konnte. So ab Mitte der Nuller war dann aber alles klar.

Und das, was man die Jahre davor als lästiges Beiwerk bei Film/TV-Preisen wie dem Golden Globe mitnahm (die vielen schwächeren Fernseh-Produktionen samt wenig interessanten Stars) übernahm plötzlich die Hauptrolle. Wie das auch bei den diesjährigen Globes in der Sonntag-Nacht der Fall sein wird.

Aber, eh klar, immer wenn eine Kunstform mit Definitionen, Zuschreibungen und Umdeutungen mit Bedeutung aufgeladen wird, gibt es (zunehmend schneller) den Automatismus des Backlash-Journalismus. Das, was kurz davor auffällig wurde, nach einiger avantgardistischer Anlaufzeit dann auch von den Dümmsten (gern auch aus den falschen Gründen) akzeptiert werden konnte, wird nach einer bestimmten Zeit (meist gänzlich ohne Begründung) wieder totgesagt - auch so ein Kapitel der Empörungsbewirtschaftung, in der sich Medien/Konsumenten (also wir alle) aneinandergekettet haben wie SM-Partner.

Broadcasting - Narrowcasting

Natürlich gibt es innerhalb dieses Backlashes auch tatsächlich gut argumentierte Bestandsaufnahmen - wie etwa hier in einem heimischen Beispiel.

Dort wird die Qualitäts-Serie der Marke Sopranos / Six Feet Under / The Wire / Deadwood / Lost unter besonderer Berücksichtigung der aktuellen Hits Mad Men und Breaking Bad gefinkelt spezifiziert: ja, es gibt dramaturgische Möglichkeiten, die uns neue Welten eröffnet haben; ja, man kann sich in diesen Reihen ernstgenommen fühlen wie in den großen Romanen von Tolstoi und Dostojewski bis Thomas Mann und Balzac.
Aber, so die hintersinnige Frage: ist das nicht eine Gentrifizierung eines Bereichs (nämlich der des Fernsehens), der bislang wild, plebejerhaft und massentauglich gelebt hatte? Und, Killerargument: ist die TV-Serie mit dem hohen Anspruch nicht ein gruseliger Widerspruch zum Prinzip des Broadcastings, von dem nur noch ein Narrow-Casting überbleiben würde?

Sprachlich und Bildhaft ist das schlau argumentiert - was fehlt, ist der Blick hinter die verwendeten Begriffe.
Die Gentrifizierung nämlich ist längst nicht mehr die perfekte Metapher für ein Totschlag-Argument (da ist mittlerweile längst eine diffenzierte Sichtweise nötig).

Die Gentrifizierung des Fernsehens?

Und das Ausspielen von Broad und Narrow geht davon aus, dass Fernsehen schon seit immer ein ewigwährendes Dschungelcamp ist - was nie der Fall war. Deutschsprachiges TV etwa war bis tief in die 70er hinein fast ein reines Bildungs(bürger)-Programm mit heftigem Theater- und Fernsehspiel-Anteil. Und die Shakespeare-Königsdramen sind, zusammengenommen, auch nichts anderes als eine abgefilmte High-Class-Erzählung auf Top-Level.

Dazu kommt, dass sich die Urheber des Serien-Booms, die Pay-TV-Stationen HBO und Showtime sich mit der Produktion von teuren Quality-Reihen in erster Linie Image und Reputation verschaffen, die sie - man ist schließlich ein Business - gewinnbringend auszuspielen trachten; von wegen "narrow".

Zu guter letzt argumentiert dann auch noch der Erfolg der erwähnten Reihen eindeutig: die Sopranos oder Six Feet Under, von Dexter oder Lost gar nicht zu reden, spielten (mit Auslands-Einsätzen, DVD-Verkäufen und zusätzlichem Merch) eine Menge Cash in die Kassen - haben also, weltweit, breitestmöglich gestreut und funktioniert.

Und eine kleine Episode aus dem Wire-Universum zeigt auch wie unzutreffend der Snob-Vorwurf an die angeblich das Trash-Potential des kreischigen "Natur"-Mediums TV zerstörende Kraft der epischen Erzählung und der Aufmerksamkeit benötigende Erzählkunst ist.

The Dickensian Aspect

Apropos Authentizität in Fiction-Programmen: diese ein wenig naive, aber doch lustige Debatte ist anlässlich des Österreich-Starts von Nurse Jackie wieder aufgetaucht. In diesem Zusammenhang auch lustig: die NASA checkt Science Fiction auf Realismus.

Morgen in TV & Qualität, Teil 2: try it again, Fuchs - an The Wire kann niemand vorbeileben.

In der Inner City, den Projects, den benachteiligten Gegenden Baltimores (vor allem den vielen abgefuckten Low-Rises), in denen "The Wire" zu einem Gutteil spielt, sind logischerweise nicht so viele HBO-Abonnenten vorzufinden - da aber die ganze Stadt wusste, dass sie eine Hauptrolle in der Serie einnehmen würde, kam es zu kleinen TV-Kooperativen samt schwungvollem illegalen Mitschnitts-Weitergaben, die dafür sorgten, dass praktisch die gesamten Neighborhoods die bei ihnen gedrehte Reihe sehen konnten. Und angesichts der in den Basics authentischen, im Detail dann aber fantasievoll ausgespielten Schlüssel-Roman-Tonalität wollten das praktisch alle.

Der Dickensian Aspect (um da den Titel einer Wire-Folge zu zitieren) der Quality-TV-Reihen besteht also nicht aus einer Überforderung eines auf reine Soaps und kurzen Spaß hingezüchteten Publikums, sondern gibt einer Mehrheitsgesellschaft die Chance cinematographisch im Mainstream nur noch in wenigen Exemplaren erhaltene Erzähl-Qualität auch im Billigberger-TV-Kastl zu bekommen.

Eine Chance, die - und da besteht angesichts nachrückender Fiction-Serien-Highlights wie Boardwalk Empire, The Walking Dead oder Sons of Anarchy mit Henry Rollins in einer Gastrolle kein Zweifel - gern ergriffen wird.