Erstellt am: 14. 1. 2011 - 18:44 Uhr
Journal 2011. Eintrag 11.
Das Jahr 2011 bietet wieder ein Journal, ein fast tägliches, wie schon 2003, 2005, 2007 und 2009.
Da werden schon an die 300 Einträge zusammenkommen, vielleicht auch mehr. Dazu komplettieren die wohl wieder 65, 70 Einträge ins Fußball-Journal '11 die diesjährige Blumenau-Show im Netz.
Meist wird es hier Geschichten/Analysen geben, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/-sehen/-hört hätte, aber nirgendwo gefunden habe; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute mit einer noch nicht fest verknoteten, unfertigen Gedanken-Anordnung: es geht um die Bösartigkeit der vorgeschobenen Radikalität. Nicht nur um die "Das wird man doch noch sagen dürfen!"-Unerhörtheiten der Rechtspopulisten, sondern auch um die aufmerksamkeitsgeile Radical-Chic-Pose der Schein-Revolutionäre. Beide zusammen verhindern praktisches Alltags-Handeln, egal ob in der Bildungs-Debatte, im medialen Diskurs oder im destruktiven Aufstands-Pathos. Meine Vermutung im letzten Teil ist im Übrigen unüberprüft: Ich gestehe mir nämlich gerne Irrtümer zu.
Offenbar hab ich derzeit einen unabsichtlichen selektiven Blick: fast überall, wo ich mich - ungeordnet und zufällig - hinwende, fallen mir unterstützende Mittel in einem wichtigen Kampf auf.
Und zwar in dem gegen diejenigen, die den kleinen Schritt der Machbarkeit vermeiden, indem sie sich hinter einer Schein-Radikalität verschanzen, die nur die große Form, den totalen Umbruch, die im Kern destruktive Zerschlagung für zulässig erklärt; diejenigen, die diese Pseudo-Radikalität - in angewandtem Sarrazynismus - unangreifbar machen, indem sie alle Gegenstimmen als bloße pragmatisch-systembewahrende Verteidigungs-Strategie gegen den gewagten denkerischen Tabubruch umleiten/deuten.
Zuerst ist es mir im Rahmen der österreichischen Bildungs-Debatte aufgefallen. Man kann das im Club 2 vom Mittwoch (der ist hier noch bis nächsten Dienstag nachzusehen, dann lässt ihn die 7-Tages-Regelung des neuen ORF-Gesetzes im Nirvana verpuffen) schön nachhören: da sind, nach der sachlichen Wehklage eines Experten, auch die Vertreter der ideologischen Grabenkämpfer, die seit Jahrzehnten einen Fortschritt verhindern, davon überzeugt, dass es weder um die Etikettierung noch den großen flächendeckenden Wurf geht, den man ansetzen muss, um einen Fortschritt, ein Weiterkommen zu erreichen, sondern die Lösungen in einer praxisorientierten Step-by-Step-Entwicklung zu suchen sind.
Hopmann, Androsch, Brinek und Zapp
Überzeugt sind sie allerdings nur für einen kurzen Moment - in der nächsten Minute sind die Vorsätze und zustimmenden Nicker vergessen und jeder richtet sich wieder in seiner Nische ein, in der nur die große System-Reform, die radikale Revolte (oder auch der Gegenpart des totalen Bewahrens) zählt.
Dann fällt es mir in der Geschichte des einzigen Medienmagazins im deutschsprachigen TV, der NDR-Vorreiter-Sendung Zapp auf, in einem Bericht, der die Skandalisierungs-Mechaniken im Journalismus anprangert, die stets neue durchs mediale Dorf getriebene Sau: durch diese von den eigentlichen Anwälten der Menschen mitbetriebene Erregung (Stichwort: Empörungsbewirtschaftung) werden keine Geschichten mehr zu Ende erzählt. Alles bleibt in der Tonalität des Hypes hängen, an Analyse ist nicht zu denken. Wer etwa kümmert sich jetzt noch um die Aufarbeitung des Love-Parade-Unglücks? Welcher der Macher kreischender Schlagzeilen hat Sarrazins Buch tatsächlich vorher gelesen? Das wievielte durchs nämliche Dorf getriebene Dioxin-Schwein ist das denn bereits?
Warum der Journalismus mittlerweile ausschließlich auf die Finten der Skandalisierer, die ihre Gegner dann wie klassische Fundamentalisten mit dem Hinweis auf deren Nichtradikalität diffamieren, folgt? Weil er, vor allem im Bereich der Verlage und Konzerne (und das zeigt das feige Schweigen der deutschen und Schweizer Verleger, die den ungarischen Medienmarkt beherrschen, geradezu exemplarisch nur mehr kommerziellen Logiken und Marktgesetzen folgt und keinerlei Ethos mehr aufweisen kann.
Misik und die Radical-Chic-Fundis
Dann fällt mir, gestern, viel zu spät, ich weiß, Robert Misiks dieswöchiges Video-Blog in die Augen. Da schimpft Misik, höchste Zeit ist's, mehr als deftig über die tollen Hechte, die radikalen Maulhelden, die niemals Risiko nehmen, die im Überlegenheits-Modus des Radical Chic marodierenden Fundis, die sich letztlich genau derselben Mechanismen bedienen wie die Sarrazins. Die mit den populistischen Schmähs der Unangreifbarkeit arbeiten, mit dem blöden "Wird man doch noch sagen dürfen!"-Schmäh. Oder besser dessen salonlinker Variante: die inszeniert sich innerhalb einer der bei "Zapp" geschilderten Szenarien der Aufmerksamkeits-Ökonomie als moralisch überlegen und begründet das auschließlich in der Radikalität des Geäußerten. Das ist allerdings eine Radikalität, die ganz genau weiß, dass sie nie zu Tragen kommen wird - ganz einfach weil die papierenen Umsturz-Anleitungen unumsetzbar sind. Weshalb sie auch nicht einmal im Kleinen funktionieren, weshalb sie (weil sie darum wissen) sich dann auch gegen den Praxis-Test sträuben - und so eben nur die "große Lösung" vor sich herpropagieren, ohne die kleinen Schritte, die beharrliche System-Verbesserung zu riskieren.
Da können die radikalen Dandies (und meist sind es Männer, die Pseudo-Radikalen, die Der kommende Aufstand-Kommunarden oder der von Misik ordentlich abgewatschte Slavoj Žižek und sein Aufruf zur Radikalität) nämlich nichts falsch machen. Da reicht es, den Pragmatikern, die mangels ehrlicher Gegenmodelle weiterhin an der Demokratie festhalten, ein schlechtes Gewissen zu machen. Da ist es opportun jede mögliche Chance auf Verbesserung fahren zu lassen und auf den großen Befreiungsschlag zu warten, der dann alles lösen wird - so weit, so katholisch, so jenseitig, so berechenbar simpel.
Göttinger Populisten-auf-die-Finger-Schauer
Egal ob in der Bildungs-Debatte, im Medien-Diskurs oder im Radical Chic der pseudoradikalen Linken.
Heute schiebt Misik, dessen Site ich eigentlich nur zum Zweck der Linksetzung aufsuchen wollte, noch etwas nach: einen Hinweis auf das Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. Und er zitiert einen Eintrag zum politischen Populismus, der da wunderbar dazupasst (ich weiß, es ist meine mittlerweile wahrscheinlich bewusste selektive Wahrnehmung von zu Beginn): der Trick des inszenierten Tabubruchs nach Muster der Populisten (hierzulande vor allem der Rechtspopulisten).
Zitat: "Der Pseudo-Tabubrecher schmückt sich mit Federn, die ihm nicht gebühren: Er ist weder subversiver Märtyrer, aufklärerischer Held noch Verteidiger demokratischer Werte, sondern verfolgt seine politischen Interessen mit Mitteln, die allgemein unredlich sind und den Spielregeln einer demokratischen Öffentlichkeit widersprechen."
Wenn diese demokratische Öffentlichkeit keine mediale Widerstandskraft mehr besitzt, wenn diskursive Unredlichkeit von denkmüden Bürgern als U-Bahn-Zeitungs-Wirklichkeit wahrgenommen wird, wenn die lässiger klingende Hoffnung auf eine Maya-Kalender-Lösung allen Probleme der Alltagsarbeit der vielen kleinen Schritte vorgezogen wird, dann ist der Pseudo-Tabubrecher, der Schein-Radikale der Herrscher in der Postdemokratie. Und zwar ein Herrscher, den die Herbeirufer auch verdienen.
Der Klassen-Trick
Das allerseltsamste an all dem ist aber dann doch ein Aspekt, der gern untergeht, weil er so überkommen erscheint. Allerdings: in einer zunehmend wieder nach Klassen organisierten Gesellschaft sollte es erlaubt sein auch da nachzuhaken.
Denn: die unangreifbaren Schicken, die professoralen Radikalen, die linken Fundis, die rechten Zyniker, die einbetonierten Grabenkämpfer im Bildungsstreit und die cortezgleich in Ungarn eingefallenen Verlags-Ausplünderer - sie sind alle Vertreter des Etsablishments, der Oberschicht, des Geldadels; in zumindest zweiter Generation. Auch und vor allem die radikalen Revolutions-Herbeireder. Sie gehören letztlich alle derselben Klasse an. Und sie werden sich letztlich alle in diese Klassen zurückziehen, wenn es hart auf hart kommt und das Maulheldentum nicht mehr ausreicht, um entsprechende Distinktion aufzureißen.
Zu einem eleganten Trickdiebstahl gehört ja auch immer einer, der blendet und ablenkt, während dir die Brieftasche geklaut wird.