Erstellt am: 15. 1. 2011 - 11:07 Uhr
Dona Marta - Santa Marta
Meine Mama und nicht nur sie macht sich große Sorgen:
541 Menschen starben nach jüngsten Angaben in den letzten Tagen bei heftigen Regenfällen und den durch sie ausgelösten Schlammlawinen und Erdrutschen. Ortschaften im Bundesstaat Rio sind von der Außenwelt abgeschlossen, können nicht von den Helfern erreicht werden. Dort, wo die Helfer eingetroffen sind, suchen sie im Schlamm nach Überlebenden.
Im Fernsehen sind 24 Stunden Aufnahmen von überfluteten Straßen und Häusern zu sehen, weinende Menschen erzählen, dass sie alles verloren haben und Helikopteraufnahmen von Gebieten, die nur noch brauner Schlamm sind, werden mit Augenzeugenberichten unterlegt. Die Regierung spricht von der "schlimmsten Katastrophe der Geschichte". Nennt mich zynisch oder die brasilianischen Fernsehstationen sensationalistisch: Ich erinnere mich an ähnlich grausame Superlative bei den Überschwemmungen vor zwei Jahren, als Verzweifelte in umgedrehten Wassertanks versuchten wieder ans Festland zu paddeln, und bei dem Erdrutschen im Ferienparadies Ilha Grande und Angra dos Reis erst letztes Jahr.
Ich wohne in der Südzone von Rio. Wenn ich sage, ich kenne Rio, dann ist das eine Lüge. Ich kenne vielleicht zehn Prozent der Stadt, Südzone und das Zentrum. Das wunderschöne, alte, herausgeputzte, glamouröse, ein bisschen chaotische Rio. Im großen und ganzen zu beschreiben als die Orte, an denen die Infrastruktur funktioniert, mehr oder weniger.
Hier ist nichts davon zu merken, dass die Stadt gerade die "größte Katastrophe der Geschichte" durchlebt. Die Busse fahren, die Menschen gehen zur Arbeit.
Ein Verdacht regt sich in mir, dass es vielleicht leichter ist, solch unglaublich traurige Verluste, die sich doch erschreckend regelmäßig wiederholen, mit historischen Katastrophen biblischen Ausmaßes gleichzusetzen, anstatt eine Diskussion über infrastrukturelle Schwächen zu beginnen, die von Gebiet zu Gebiet sehr unterschiedlich sind. Viele Millionen Reais sind zum Beispiel in den letzen 24 Monaten in infrastrukturelle Verbesserungen in der Favela Dona Marta, die ich dieser Tage besucht habe, investiert worden.
Die steilste Favela Rios
Dona Marta, oder auch Santa Marta, je nachdem welcher Konfession man angehört, ist die steilste Favela Rios. Vor etwas mehr als zwei Jahren wurde eine Standseilbahn gebaut, die Bewohnerinnen und heute auch Touristinnen auf den Gipfel des Hügels zieht.
natalie brunner
Dona Marta wurde vor zwei Jahren auch als erste Favela von Rio "befriedet". Das Polizeiprogramm UPP des Gouverneurs von Rio de Janeiro Sergio Cabral wurde hier erstmals erprobt. Offiziell hat Dona Marta 6.000 Bewohnerinnen, geschätzt ein Vielfaches mehr, aber dennoch es ist eine relativ kleine Favela im Herzen der Südzone in Botafogo mit klaren Grenzen zu dem sie umgebenden Bezirk. Die obere Grenze von Dona Marta ist übrigens die umstrittene Mauer, die, wie manche sagen, die Bewohnerinnen wegsperrt oder, wie andere meinen, eine essentielle ökologische Maßnahme ist, um die Ausbreiteung der Favela in den Regenwald einzudämmen, Umweltschäden und das Erdrutschrisiko zu reduzieren.
natalie brunner
Im Dezember 2008 führten Sondereinheiten der Polizei zwei Monate Krieg gegen die bewaffneten Drogenhändler des Comando Vermelho, bevor der Trafico sich geschlagen gab und die permanent in der Gemeinde stationierten Pazifizierungseinheiten UPP ihre Posten bezogen. Bei den UPPs sind Sozialprogramme eng mit der eigentlichen Polizeiarbeit verbunden. Bevor die Favela in die Kontrolle des Staates geholt wurde, regulierten die Drogenhändler, welche sozialen Leistungen in der Favela zugelassen wurden und welche privaten Firmen Geschäfte machen durften.
Die "Befriedung" einer Favela hat mehre Stufen, zwischen Verbrechensrepression und -prävention. Zuerst stürmt die schwerbewaffnete Sondereinheit BOPE, Batalhão de Operações Policiais das Gebiet. "Wenn die BOPE kommt, dann um zu töten, und den Gangstern fällt dann oft wieder auf, dass sie nur verzweifelte Teenager ohne Perspektiven aber mit Waffen sind", meinte mein Freund und Anwalt, als er mir von der Besetzung des Complexo do Alemao Mitte Dezember erzählte. Die BOPE, deren Symbol ein von einem Dolch gespaltener Totenschädel ist, kam durch Jose Padilhas Film "Tropa de elite" zu internationaler Bekanntheit und zweifelhaftem Ruhm. Das Ausmaß des Wahnsinns lässt sich durch einen Blick auf die offizielle Webseite der Sondereinheit erahnen.
natalie brunner
Nach der Vertreibung der bewaffneten Soldaten des Drogenhandels werden die UPPs, Unidades de Policía Pacificadora Especiais eingerichtet. Ihre Aufgabe ist es Frieden und öffentliche Ruhe herzustellen, die notwendigen Vorraussetzungen zu schaffen, damit die Bewohnerinnen der Favelas ihre Bürgerrechte wahrnehmen können. Sie sollen den Kreislauf der Gewalt brechen, eine Mischung aus Polizei und Sozialarbeit leisten. Kurz vor Weihnachten spazierte ich bei der Polizeistation in der ebenfalls mit UPP besetzten Favela Cantagalo vorbei. Es war eine Szene wie aus einem Werbefilm. Ein Polizist stand mit ein paar Kids mit Gitarre vor der Polizeistation und sie scherzten und sangen Lieder.
natalie brunner
Alle winken, als ich ein Foto mache, und der Polizist läuft mir nach und lädt mich zu einem Konzert der Jungs ein. "Sie selbst sind zu schüchtern", meint er. Eine Szene wie aus einem Werbespott. Zweieinhalb Jahre zuvor war ich auf einem Baile Funk 50 Meter weiter runter den Hügel: Bewaffnete Teenager standen in einer Reihe, die Militärpolizei fuhr mit heruntergelassenen Scheiben, die Waffen auf sie gerichtet im Schritttempo vorbei. Das ganze sah aus wie der Standoff bei einem Western. Ich betete zu einer höheren Macht, an die ich angesichts solcher Szenen eigentlich nicht glaube, dass alle bewaffneten Menschen gut bezahlt worden sind.
Dona Marta bekam nach der UPP gratis Internet, ein paar Sozialbauten wurden errichtet, die Müllabfuhr reinigt im unteren Teil die Straßen, Häuserfassaden wurden herausgeputzt und Dona Marta wurde auserkoren ein neues touristisches Highlight zu werden. Brasiliens Präsident Lula bestieg den Hügel, um "Rio Top Tour" einzuweihen. Der sehr schöne Blick von Dona Marta auf die Bucht von Gunabara gehört nun zu den offiziellen touristischen Highlights.
natalie brunner
Ob die Bewohnerinnen irgendwer gefragt hat, ob sie Lust drauf haben, dass ständig irgendwer in ihre Wohnzimmer blickt, weiß ich nicht. Hat es etwas mit Zusammenwachsen von Arm und Reich zu tun, wenn Hersteller von Energy Drinks Downhill Mountainbike Races durch die Wohngegend veranstalten? Hat es etwas mit Zusammenwachsen von Arm und Reich zu tun, wenn in den engen Gassen des Labyrinths der Favela Touristen stehen und den von Rio Top Tour ausgeteilten Plan mit den Sehenswürdigkeiten lesen, während Menschen, die eine Palette Ziegel auf ihren Rücken schleppen, nicht an ihnen vorbeikommen?
natalie brunner
Armut bereisen
Die aus Rio stammende Soziologin Bianca Freire-Medeiros ist die Autorin des Buches "Touring Poverty", das dieses Jahr erscheinen wird. "Touring Poverty" ist eine Untersuchung des Elendstourismus, des Slumings. Die Autorin arbeitet einerseits die Ähnlichkeiten zwischen Favelatourismus und den bereits im viktorianischen London verbreiteten voyeuristischen Ausflügen in Elendsviertel heraus. Andrerseits führt sie auch die Argumente der Befürworter des Favela Tourismus an. Nämlich, dass der Tourismus die wirtschaftliche Entwicklung der Gebiete beschleunigt und das Selbstwertgefühl der Bewohnerinnen stärkt.
natalie brunner
Als ich in die Gondel der Seilbahn, die zum Gipfel von Dona Marta führt, steige, wirken einige der Passagiere und vor allem die junge Dame, die die Gondel bedient, nicht so glücklich, dass ich auch in die volle Gondel will.
natalie brunner
Die Gondel ist zu schwer, nicht die Menschen, die zuletzt eingestiegen sind, sondern ich muss raus. Mein Argument, dass ich nicht die letzte war, die eingestiegen ist, sondern wie alle anderen mich angestellt habe, zählt nicht. Ich muss raus. Ich verstehe es irgendwie, weil es ist klar, dass ich die einzige bin, deren Mission hier nur blöd Schauen aka Tourismus ist. Es ist mir auch klar, wie lächerlich es ist, eine Diskriminierungsdiskussion vom Zaun zu brechen, aber es ist ein scheußliches Gefühl wegen Herkunft und Hautfarbe aus einem Verkehrsmittel aussteigen zu müssen. Oder vielleicht ist es auch nur die Simulation eines Gefühls, da klar ist, dass das globale Reichtumsgefälle zu meinen Gunsten liegt. Ich werde heute vor dem Schlafengehen eine Klospülung betätigen. Vielleicht ist es auch einfach das, was ich hier lernen sollte, eine Ahnung, wie widerlich Diskriminierung und Exklusion sich anfühlen.
Es ist das erste Mal in Brasilien und überhaupt in meinem Leben das ich "anders" behandelt werde, anders als super zuvorkommend. Mit Ausnahme der alten Hexen, die den Park in Meidling bewachen und denen ich nicht arisch genug aussehe, sodass die mich jedes Mal, wenn ich mit meinen Hunden auftauchte, anbrüllten, ob Ausländer nicht einmal gezeichnete Hundeverbotsschilder lesen könnten. Das Wort Piktogramm kennen die Damen in Meidling übrigens nicht, ist ja auch ein Fremdwort. In Santa Marta versucht man das Hundekotproblem mit Humor zu lösen.
natalie brunner
Den älteren Leuten, die bei der Talstation der Gondel von Santa Marta stehen, mit mir auf die nächste Gondel warten und die Sache mitbekommen haben, scheint das, was passiert ist, ziemlich unangenehm zu sein. Sie unterhalten mich mit Small Talk über die Seilbahn, wie das neue Jahr so werden wird. Die Gondel kommt, und die alten Leutchen drängen mich in ihrer Mitte hinein und bestehen drauf, dass ich den Sitzplatz zwischen ihnen einnehme. Ich bin gerührt. Ein älterer Herr hat drei Paletten Eier auf dem Schoß und macht Witzchen bzw. Wortspielchen mit feliz ano novo und feliz ano ovo.
natalie brunner
Bei der zweiten der fünf Stationen steigt eine für den Nachmittag schon gut betrunkene Lady um die Fünfzig zu. Sie küsst alle und erzählt Schnurren, wie sie auf Stöckelschuhen vor Schießereien zwischen Gangstern und der BOPE flüchtete.
Die Menschen sind tourismus-traumatisiert. Ich mach ein Foto aus der Gondel hinaus und ein Junge so um die sieben Jahre beginnt zu schimpfen, weil ich kein Recht habe ihn ungefragt zu fotografieren. Ich gebe ihm recht und zufrieden kontrolliert er die Bilder auf meiner Kamera, ich habe ihn tatsächlich nicht fotografiert. Jetzt soll ich ihn fotografieren.
natalie brunner
Am Gipfel der Favela ein Fußballplatz, das UPP Gebäude und die vieldiskutierte Mauer. Es ist um ein paar Grad kühler als in der Stadt, Kinder und Teenager lassen Drachensteigen.
natalie brunner
Ein Pärchen, das auch mit mir in der Gondel war und den Vorfall mitgekriegt haben muss, bietet mir an, mich mit dem Motorrad zur nächsten Aussichtsplattform zu führen.
natalie brunner
Ich sitz ein bisschen auf den Stufen herum und beobachte wie amerikanische Touristen von ihrem Guide zum Fußballfeld geführt werden. Die Jungs unterbrechen ihre Partie, damit die Besucher mit echten armen Brasilianern kurz kicken können.
natalie brunner
Ich mach mich auf den Weg zu der meiner Meinung nach größten Attraktion von Dona Marta: Das bronzene Denkmal eines strahlenden Michael Jackson, der seine Hände ekstatisch vor der Bucht von Gunabara in die Höhe reißt.
natalie brunner
So bizarr es klingen mag, die heute in dem Touristen Flugblatt eingezeichnete Sehenswürdigkeiten verdankt die Favela Dona Marta dem Drogenhändler Marcinho VP
Marcinho VP war in den 90er Jahren der Chef des Trafico in Dona Marta.
Wie in "Abusado", der Biographie des Drogenhändlers, beschrieben, hatte Marcinho VP nicht nur einen guten Sinn fürs Verbrechen. Er fand auch Geschmack an den schönen Künsten und der Popkultur. Als Spike Lee und Michael Jackson 1996 nach Rio kamen, um das Video zu "They don't care about us" zu drehen, organisierte Marcinho VP den Dreh für sie, in der von ihm regierten Favela. Er und somit das Comando Vermelho sorgten für die "Sicherheit" des Prince of Pop. Gerüchteweise sollen damals zwei Millionen Reais an das Comando geflossen sein. 2003, zwei Monate nach Erscheinen seiner Biographie wurde der zu 25 Jahren Haft verurteilte Marcinho VP von Unbekannten im Gefängnis Bangu erwürgt. Ich verlaufe mich natürlich auf den Weg zu Michael. Ein Gruppe von jungen Damen bietet sich als Begleitung an.
natalie brunner
Der Weg, den sie wählen, ist nicht der, den die Flugblätter vorgesehen haben. Barracken auf wackeligen Pfählen, dazwischen immer wieder Müllplätze, auf denen Hühner picken, manche Häuser sind auch einfach mit Müll zugestopft.
natalie brunner
Eine fette Ratte sitzt beim Abwasserkanal, eine meiner kleinen Führerinnen tritt mit ihren Sandalen in die Hundescheiße.
natalie brunner
Was ich hier sehe, ist traurig. Wir biegen ums Eck und da ist sie wieder, die von der Stadt installierte Nachtbeleuchtung auf den Hauswänden. Michael kann nicht mehr weit sein. Und tatsächlich, da ist es, das Neverland Mosaik und die eine Jeff Koons würdige Michael Jackson Statue.
natalie brunner
Die Ladies fragen, ob sie mich noch wohin bringen sollen bzw. ob ich ihnen Kohle borgen kann. Ich bin eindeutig nicht die Rio Top Tours Zielgruppe.