Erstellt am: 17. 1. 2011 - 15:35 Uhr
Dann bis morgen im Roman!
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Ein mehr als 600 Seiten starker Roman, in dem es weder eine Handlung, nicht einmal den Schatten eines Ereignisses, noch Figuren gibt, muss nicht nur mit einer schlechten Kritik, sondern mit einer öffentlichen Hinrichtung rechnen. Selbst die schönsten und detailreichsten Naturbeschreibungen und architektonischen Schilderungen bewahren in diesem Fall nicht vor einer Anprangerung als Musterbeispiel dafür, wie ein literarisches Werk auf gar keinen Fall aussehen soll. Dieses unmögliche Buch steht im Zentrum von Goran Petrovićs Roman „Die Villa am Rande der Zeit“.
Das vollkommene Lesen
Der Verfasser des Buches, das mit diesem Verriss bedacht wurde, ist Anastas S. Branica, 1896 in Belgrad geboren und in vermögenden Verhältnissen aufgewachsen. Schon früh erkennt Anastas seine Fähigkeit zum vollkommenen Lesen, die Fähigkeit in Texte einzutauchen, und das ist nicht metaphorisch gemeint. In der Meeresschilderung eines Abenteuerromans geht er schwimmen, im Biologiebuch pflückt er Heilpflanzen und in militärischen Karten hebt er Maschinengewehrnester aus.
In der Theorie kennt man diese vorgestellte Gemeinschaft von LeserInnen von Benedict Anderson, der diese Gleichzeitigkeit als notwendig für das Entstehen der Nation betont.
Anastas kann sich durch den Lesestoff wie durch einen Raum bewegen und dabei begegnen ihm alle Personen, die zum selben Zeitpunkt das gleiche lesen. Tageszeitungen etwa sind am Erscheinungstag praktisch überfüllt, doch nur wenige Personen sind wie Anastas in der Lage ihre MitleserInnen im Text zu erkennen.
Nathalie, eine junge Französin, die mit ihrem Vater nach Belgrad gekommen ist, hat auch diese Fähigkeit. Anastas verliebt sich in einem Buch über hellenistische Architektur in sie, doch da sie von einer Gouvernante auf Schritt und Tritt bewacht wird, bleibt ihnen ein Treffen in der Realität verwehrt. Alles, was sie tun können ist, sich jede Woche in einem anderen Buch zu verabreden, bis Anastas für mehr Privatsphäre sorgt und beginnt, Briefe in doppelter Ausführung zu schreiben.
Die Villa am See
In unzähligen Briefen erschafft Anastas einen einmaligen Rückzugsort, eine Villa inmitten des Paradieses. In sie investiert er all seine Zeit und sein beträchtliches Vermögen. Die Villa lässt er von den bekanntesten Belgrader Architekten entwerfen, um sie Strich für Strich in Wörter und Sätze zu übertragen. Gleich verfährt er mit dem Garten, den er in Frankreich planen lässt, und der von Versailles, maurischen Wasserfontänen und der Strenge eines Alpinariums inspiriert ist. Beim bekanntesten Künstler gibt er eine Büste in Auftrag, die er nie abholt, von Schriftstellern lässt er sich selten gebrauchte und vielschichtige Wörter liefern und von einem Antiquitätenhändler verlangt er detaillierte Beschreibungen besonderer Möbelstücke.
Dragan Pesic
Doch das Glück in der phantastischen Welt kommt zu einem jähen Ende, als sich Nathalie und Anastas eines Tages zufällig in Belgrad begegnen. Nathalie kann Anastas in der Realität nicht erkennen. Hinzu kommt, dass sie bald heiraten und Belgrad verlassen wird. Die Enttäuschung darüber lässt Anastas‘ Welt zusammenbrechen. In einer letzten Kraftanstrengung macht er aus den Briefen einen Roman, sein „Vermächtnis“ und veröffentlicht ihn, nachdem ihm alle Verlage abgesagt haben, in einer Auflage von 100 Stück im Selbstverlag. Nach der vernichtenden Kritik in einer serbischen Literaturzeitung geht er 1936 in Donau.
Der Auftrag
Mehr als 60 Jahre nach Anastas S. Branicas Tod bekommt der Belgrader Slawistikstudent und Lektor der Zeitschrift „Die Schönheiten unseres Landes“ Adam von einem mysteriösen Auftraggeber die lukrative Aufgabe angeboten, einige Änderungen an diesem Roman vorzunehmen, Pflanzen zu entfernen, Giebelinschriften auszubessern etc. Adam nimmt an, sieht sich aber schnell mit Schwierigkeiten konfrontiert, die außerhalb der Lektorentätigkeit liegen. Die Villa hat noch andere BewohnerInnen/LeserInnen, und die melden Besitzansprüche an den Text an.
Im Gegensatz zu Branicas „Vermächtnis“ bekam Petrovićs „Die Villa am Rande der Zeit“ nicht nur gute Kritiken, sondern wurde auch mit dem wichtigsten serbischen Literaturpreis, dem „NIN-Preis“ ausgezeichnet.
Dass Goran Petrović Philologe ist, merkt man seinem Roman an. Spielend verpackt er Literaturtheorie in seinem Roman, angefangen bei der Frage, wem ein Text eigentlich gehöre. In einer der Romanfiguren bringt er eine poststrukturalistische Vorstellung vom Text als Gewebe und vom Tod des Autors ein. „Die Villa am See“ strotzt nur so von intertextuellen und intermedialen Verweisen, liefert einen Einblick in die bewegte Geschichte, Literatur- und Kunstszene Jugoslawiens im 20. Jahrhundert, wo sich Petrović einige Spitzen auf den serbischen Nationalismus nicht vorenthalten will. Teilweise wie ein Stadtroman geschrieben und mit viel Humor führt uns Petrović in verschiedenen Jahrzehnten durch Belgrad.
- Eine Leseprobe gibt es hier
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Goran Petrovićs Roman ist eine Liebeserklärung an das Lesen, an das Sich-Verlieren im Text, an das Treibenlassen und an die Freude an einzelnen Formulierungen. Ein grandioses Buch in der Tradition des magischen Realismus, geschrieben für die LeserInnen, die wie eine Figur in Petrovićs Roman sagt, genießend analysieren und analysierend genießen können.