Erstellt am: 7. 1. 2011 - 16:19 Uhr
Neue Mittelschule und Gymnasium
Viele Jahre war einer der der großen ideologischen Unterschiede zwischen SPÖ und ÖVP die Frage der Gesamtschule: Die SPÖ trat für eine gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen ein, weil sie der Meinung war, es sein unsinnig, schon am Ende der Volksschule über den zukünftigen Bildungsweg eines Kindes zu entscheiden. Die ÖVP wiederum war gegen die Gesamtschule, weil sie sagte: Eine gemeinsame Schule für alle würde das Niveau für alle senken.
Vor einigen Jahren kam Bewegung in die Sache: SPÖ und ÖVP wollten das negative Image der streitbaren Vorgängerkoalition hinter sich lassen und versuchten auch in der Frage der Gesamtschule, ideologische Gräben zu überwinden. Das Ergebnis war der Schulversuch Neue Mittelschule (NMS). Zehn Prozent aller Hauptschulen Österreichs wurden in NMS aufgewertet. Dort sind mehr Lehrer vorhanden als früher, es gibt mehr Schulfächer und größere Wahlmöglichkeiten, und am Ende der Neuen Mittelschule können SchülerInnen entweder eine Lehre beginnen, oder in die Oberstufe eines Gymnasiums wechseln.
APA/GEORG HOCHMUTH
Gegen die Aufhebung der Zehn-Prozent-Grenze aber wehrte sich die ÖVP bisher - anfangs vehement, zuletzt aufgrund interner Diskussionen vor allem seitens der Landeshauptleute weniger eindeutig. Die SPÖ hingegen wollte möglichst viele, am liebsten alle Hauptschulen zu Neuen Mittelschulen aufwerten. Heute kündigte ÖVP-Obmann Josef Pröll überraschend ein Umdenken seiner Partei an. Der Kernsatz: "Die Neue Mittelschule kommt, und das Gymnasium bleibt." In ganz Österreich sollen alle Hauptschulen in Neue Mittelschulen verwandelt werden. Josef Pröll präsentierte das Einlenken der ÖVP in dieser Frage einerseits als Angebot, andererseits verpackt in ein umfassenderes Reformkonzept.
Die Art und das Timing erinnerten dabei an Guerilla-Werbestrategien des Computerherstellers Apple: Anstatt der "zufällig" aus einer chinesischen Handyfabrik gestohlenen Geheimdaten eines zukünftigen Gadgets wurden in diesem Fall erste "vertrauliche" Informationen zum Bildungskonzept frühmorgens an einzelne Journalisten "geleakt". Der Fenstertag am Ende einer Weihnachtswoche sorgte für zusätzliche Aufmerksamkeit an einem Morgen, der sonst wohl sehr ruhig verlaufen wäre. Bei einer für den späten Vormittag angesetzten Pressekonferenz platzte der Präsentationssaal in der ÖVP-Zentrale dann auch prompt aus allen Nähten - der Überraschungscoup war gelungen.
"Jetzt" steht auf der Wand hinter dem Podium, "Unser Bildungsweg für Österreich" heißt es auf dem Reformpapier. Die ÖVP setzt auf das Macher-Image, demonstriert Gestaltungswillen und betont gleichzeitig das "Angebot an den Koaltionspartner".
Das Konzept sieht vor, dass beide Schultypen – Neue Mittelschule für Zehn- bis Vierzehnjährige, Gymnasium für Zehn- bis Achtzehnjährige – nebeneinander existieren sollen, gleichzeitig aber die völlige Durchlässigkeit zwischen den beiden Schultypen gewährleistet sein soll. Unter anderem, indem die Auswahl an Unterrichtsfächern breiter und freier werden soll, sagt Josef Pröll: "Der Vorwurf der SPÖ, der immer da war, man müsse schon frühzeitig mit 10 den Bildungsweg irreversibel einschlagen, ist damit vom Tisch. Sowohl in der Unterstufe der NMS, als auch in der Unterstufe Gymnasium, muss es mehr Durchlässigkeit im Fächerkanon geben."
Mittlere Reife und Lernmodule
Außerdem will die ÖVP am Ende der vieten Klasse Mittelschule die sogenannte Mittlere Reife einführen. Diese "kleine Matura" mit 14 müsste dann also jede Schülerin und jeder Schüler machen, denn Hauptschule gäbe es ja keine mehr. Die Beurteilung würde sowohl mittels Noten, als auch durch verbale Beurteilung besonderer Talente und Fähigkeiten erfolgen. Ein Wechsel ans Gymnasium sei dann bei entsprechend guter Beurteilung möglich, sagt Wissenschaftsministerin Beatrix Karl: "Das positive Beurteilen der Mittleren Reife ist eine Voraussetzung für den Aufstieg in die Oberstufe – sowohl der AHS, als auch der Berufsbildenden Höheren Schulen. Diese Mittlere Reife muss von allen absolviert werden, an der Mittelschule und an der AHS, und dient dann auch dazu, jene Durchlässigkeit sicherzustellen." Mehr Durchlässigkeit soll es auch durch die modulare Gestaltung der Lehrpläne geben, sagt Karl: "Damit bei einem Wechsel an eine Schule mit einem anderen Schwerpunkt nur einzelne Lernmodule nachgeholt werden müssen, und nicht ganze Fächer".
Nicht abgeschafft, aber reduziert wird nach Vorstellung der ÖVP das Sitzenbleiben: SchülerInnen sollen mehr Möglichkeiten erhalten, ihre Schwächen zu verbessern, anstatt ganze Schuljahre zu wiederholen. Das Sitzenbleiben wäre ein letztes Mittel.
Schulnoten soll es auch in Zukunft geben, allerdings wünscht sich die ÖVP eine zusätzliche verbale Beurteilung und sogenannte "Bildungsempfehlungen" für Eltern und Lehrer. Dabei sollen besondere Talente und Fähigkeiten beschrieben werden, aber auch Schwächen und Defizite.
Die ÖVP wünscht sich eine Stärkung der Schulautonomie. Direktoren sollen sich in Zukunft auch die SchülerInnen besser aussuchen können, sagt Joseph Pröll: "Schulautonomie heißt: Direktoren sollen mitreden können, nicht nur bei der Einstellung von Lehrern, sondern auch bei der Aufnahme von Kindern. Und dabei wird die Bildungsepfehlung – neben den Noten – ein ganz wichtiges Hilfsinstrument sein."
Die Mehrkosten für die Aufwertung aller Hauptschulen in Neue Mittelschulen schätzt ÖVP-Obmann und Finanzminister Pröll auf 130 Millionen Euro pro Jahr. Mit der Schaffung einer echten Gesamtschule kann er sich weiterhin nicht anfreunden. Die Argumentation bleibt die alte: "Einheitsbrei führt zu einer Nivellierung nach unten."
Die SPÖ reagiert auf die Reformvorschläge der ÖVP vorsichtig positiv. Unterrichtsministerin Claudia Schmied begrüßt den Wegfall der 10%-Grenze für die Neue Mittelschule und spricht von einem "Schritt in die absolut richtige Richtung", aber bedauert, dass es mit dem Festhalten der ÖVP an den Gymnasien vorerst keine gemeinsame Schule der Zehn- bis Vierzehnjährigen geben wird.