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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

10. 1. 2011 - 09:32

Skippy stirbt

Ein Doughnut-Wettessen kostet einen Jungen das Leben und das Universum steht Kopf. Paul Murrays opulenter Roman ist eine grenzgeniale Tragikomödie über das Erwachsenwerden.

Paul Murray: Skippy stirbt

Kunstmann Verlag

Paul Murray: "Skippy stirbt" ist 2011 in deutscher Übersetzung von Rudolf Hermstein und Martina Tichy im Kunstmann Verlag erschienen.

Am Beginn steht ein Wettkampf unter Freunden. Ruprecht und Skippy treffen sich im Ed's und tragen ein Doughnut-Wettessen aus. Die Menge tobt, die Schmalzkringel häufen sich. Bis Skippy auf einmal blauviolett anläuft, sich vor Schmerzen windet und vom Stuhl fällt. Skippy schnappt verzweifelt nach Luft. Während ein junger Asiate mit einem Ed's-Anstecker versucht dem Jungen Erste Hilfe zu leisten, untersucht Ruprecht den Boden nach Doughnut-Resten. Wenn er rauskriegt, an welchem Doughnut sich Skippy verschluckt hat, kriegt er vielleicht raus, was los ist.

Doch erst jetzt fällt Ruprecht auf: Skippy hat gar keine Doughnuts gegessen. Keinen einzigen! Warum sollte jemand zu einem Doughnut-Wettessen antreten und keine Doughnuts essen? Inzwischen verkrampft sich Skippy am Boden und versucht mit Himbeersirup eine Nachricht zu schreiben. "S-A-G L-O-R-I". Ruprecht vollendet: "Sag Lori, dass ich sie liebe." Dann sieht Ruprecht ganz deutlich, wie das Auf und Ab von Skippys Brust zum Stillstand kommt. Der Junge ist tot.

Skippy stirbt: Doughnuts

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Die zuckersüße Ursache allen Übels

Hopeland und Heartland

Flashback: Das übergewichtige Mathematik-Genie Ruprecht Van Doren teilt sich mit Daniel "Skippy" Juster ein Zimmer am altehrwürdigen Seabrook College, einem Internat für Knaben in Dublin. Den Spitzname "Skippy" hat Daniel deshalb, weil der Junge beim Reden manchmal wie ein gewisses Fernsehkänguruh lispelt. Das Seabrook College erstickt irgendwelche Harry Potter-Fantasien im Keim. Hier ist nichts magisch, ist man doch auf Gedeih und Verderb verrückten Lehrern, Schikanen von Mitschülern und Fußpilzepidemien ausgeliefert. Hinzu kommt, dass man als 14-jähriger Bursche, umgeben von anderen Burschen, seinen pubertierenden Trieben nur schlecht widerstehen kann und jedes Geschlechtsorgan im wahrsten Sinne des Wortes auf ein Podest stellt.

Aber weil das Elternhaus für die meisten dieser Kinder ohnehin wie Guantanamo wirkt, arrangiert man sich. Denn im Seabrook College passiert einiges. Wir lernen Howard "The Coward" kennen, einen ehemaligen Schüler und jetzt Geschichtslehrer, der auf die Aushilfslehrerin abfährt. Die wiederum sagt ihm beim ersten Gespräch sofort: "Ich werde nicht mit Ihnen schlafen." Tut sie dann natürlich doch, allerdings mit desaströsen Folgen, die eng mit Carl, dem psychopathischen Schläger der Schule, zu tun haben. Carl ist ein widerwärtiger Fatzke, dealt mit Drogen, hat aber eine bildhübsche Freundin: Lori. Und hier schließt sich der Kreis zu Skippy, der sich bis über beide Ohren in Lori verliebt und sich deshalb noch vor seinem Tod mit dem Psychopathen Carl anlegen muss.

Skippy stirbt: Doughnut

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Das Universum

Aber das ist alles nur die Spitze des Eisbergs. Denn Ruprecht ist ein zukünftiger Stanford-Absolvent, der sich bestens mit String- und M-Theorien auskennt, und an einem Portal in die 11. Dimension arbeitet. Seiner Theorie zufolge könnte das Universum vor dem Urknall wie ein Doughnut ausgesehen haben, bevor es in mehrere Dimensionen zersprang.

Apropos Doughnut: All die Irrungen und Wirrungen erzählt der irische Autor Paul Murray mit so viel Witz, dass man aus dem Lachen nicht mehr herauskommt. Bis Skippy beim Doughnut-Wettkampf stirbt. Denn das Fressgelage ist chronologisch nicht das Ende, sondern das Zentrum der Geschichte, das schreckliche, fundamental traurige Nachwehen auslöst.

Ghostland: Das Leben, das Universum und der ganze Rest

Paul Murray ist alles andere als von der schnellen Truppe. Ganze sieben Jahre nach seinem Debüt "An Evening of Long Goodbyes" (2003) hat Murray gebraucht, um seinen zweiten Roman "Skippy dies" (2010) zu veröffentlichen. Nun erscheint das opulente Werk mit knapp 780 Seiten auch auf Deutsch. Und es hat sich gelohnt. Murray legt mit "Skippy stirbt" einen der besten Adoleszenzromane aller Zeiten vor. Ich bin mit Superlativen normalerweise eher vorsichtig, aber "Skippy stirbt" gehört zu den lustigsten und zugleich bedrückendsten Büchern über das Erwachsenwerden, die ich je lesen durfte. Ein Meisterwerk, ehrlich.

Paul Murray

Hamish Hamilton

Der irische Autor Paul Murray

Der Roman ist in drei Teile gegliedert: "Hopeland", "Heartland" und "Ghostland". Er beginnt mit Skippys Tod und arbeitet sich dann rückwärts in die Vergangenheit. Die vielen Charaktere, von den Schülern bis zu den Lehrern, hat man rasch überblickt und liebgewonnen. Zum Beispiel Direktor Greg Costigan, eigentlich der Bösewicht der ganzen Geschichte, muss man sich als eine Mischung aus Leslie Nielsen in Naked Gun und John Cleese vorstellen. In sicherlich bald legendären Wortduellen mit Geschichtslehrer Howard sprüht der Mann mit so viel trockenem Humor, dass man es selbst gelesen haben muss. An einer Stelle erklärt er köstlich, warum Fische keine Teamplayer seien, weil sie wie irr im Aquarium rumschwimmen. An anderer (und höchst prekärer) Stelle bittet seine Frau ihm ein Getränk an: "Tee? Kaffee? Saft?" und er erwidert: "Verdammt, Trudy, du sollst hier keinen Saft anbieten! Die Lage ist ernst!"

Nach Skippys Tod, der übrigens (so viel sei gespoilert) nichts mit Doughnuts zu tun hat, verändert sich der Tonfall des Romans. Die Charaktere wirken wie ausgetrocknet und zutiefst traurig. Das Raum-Zeit-Gefüge des Universums scheint gestört, Zukunftsträume geplatzt, der Verlust und die Lethargie der Heranwachsenden und der Erwachsenen sind greifbar. Alle Figuren sind im Begriff zu scheitern und der Schlüssel zu allem ist ein Universum, wie es eventuell nur ein Genie wie Ruprecht im Ansatz verstehen könnte.

Weitere Leseempfehlungen:

"Skippy stirbt" ist eine äußerst rare Tragikomödie über die Jugend, weil sie gleichermaßen komisch wie traurig ist. Ein großer Wurf im Stile eines Douglas Adams oder Monty Python und sicherlich auf Englisch noch um einiges besser. Und egal wie alt man ist, manche Sätze stimmen immer: "Ich wünschte, ich wäre in der 11. Dimension. Mit etwas Porno."