Erstellt am: 5. 1. 2011 - 22:00 Uhr
The Dying Dog
Die Leute fanden den Weg in die Geschäfte nicht, der viele Schnee war schuld.
Sagen die Leute von HMV.
Aber sie glauben es selbst nicht, sonst hätten sie nicht angekündigt, als Reaktion auf die fallenden Umsätze diese Weihnachten 60 ihrer 597 britischen Filialen zu schließen.
Das heißt, es ist alles natürlich noch ein gutes Stück komplizierter: 312 dieser 592 Filialen bzw. 20 der 60, die vorerst zusperren, sind nämlich nicht Megastores, sondern Buchgeschäfte der Kette Waterstone's, die ebenfalls zur HMV-Gruppe gehört.
Warum in den HMV Stores selbst im vergangenen Jahr die Weihnachtsverkäufe um über 13 Prozent gesunken sind, braucht eigentlich keine Erklärung. Ich war vor Weihnachten in meiner örtlichen Dependance dieses versinkenden Imperiums, und ich wusste selbst nicht so genau, was ich dort tun sollte. Die schwindende, lieblose „Selektion“ an Musik-CDs war völlig arbiträr bestückt, in etwa wie eine bessere Tankstelle in den Neunzigern.
Dass die Games-Abteilung auch nicht mehr kann als die anderen, größeren Games Stores im Zentrum von Canterbury, war offensichtlich.
Und bei den DVDs ging es schon vor Weihnachten wie beim Diskonter zu, die einstigen World Cinema-Angebote verdrängt von verbilligten Box-Sets mit kindischen Gimmicks.

Robert Rotifer
Megastores gehen, und ORF-Gesetze kommen. Was lernen wir daraus?
Die FM4-Seite ist übrigens 50 Milliarden Dollar wert, hab ich wo gelesen, weil man da bei sendungsbegleitenden Texten wie diesem was drunterposten darf.
HMV, die Kette, die Tower Records und Virgin bzw. Zavvi überlebt und zuletzt einen traurigen Rest der kurzlebigen Konkurrenz Fopp übernommen und wiederbelebt hat, ist mittlerweile der letzte verbliebene Megastore in Großbritannien (Tonträger-Verkauf im Elektrofachhandel gibt es hier nicht). Aber so wie die Betreiber sich anstellen, wird es nicht bei den angekündigten Schließungen bleiben. His Master's Voice röchelt aus dem letzten Loch, und seinem alten Hund ist auch schon schlecht.
Für einen wie mich, der in diesen Kathedralen der unbegrenzten Erhältlichkeit viele schuldbewusste Stunden zugebracht hat (bei den Re-Releases konnten die Independents, wo man sonst lieber einkaufen ging, preismäßig einfach kaum mithalten), sollte dieser Niedergang eigentlich eine Tragödie sein, aber die oben beschriebenen Zustände bremsen den Bewahrungseifer enorm.

Robert Rotifer
Wir alle wissen mittlerweile, dass das Überleben von Tonträgern und DVDs vom Bestehen eines kleinen Liebhaber- und Sammlermarkts abhängen wird, den ein Laden wie HMV schon seit Jahren nicht mehr bedient.
Sehr bezeichnenderweise sind die Verkäufe bei Rough Trade, dem großen überlebenden Londoner Independent Store an der Brick Lane (Ost) und in der Talbot Road (West), trotz des Abwärtstrends im britischen Weihnachtsgeschäft um beachtliche fünf Prozent gestiegen.
Ich bin selbst ganz überrascht über meinen untypischen Optimismus, aber wenn sich das, was von der Tonträgerkundschaft bleibt, künftig auf Geschäfte wie Rough Trade konzentrieren sollte, dann wäre das einstweilen eigentlich der bestmögliche Ausgang dieser traurigen Affäre, in der es lange so aussah, als ob die Megastores zuerst die gesamte Konkurrenz und dann auch noch sich selbst fressen würden, bis gar nichts mehr da ist.
Eine Welt, in der Platten überhaupt nur mehr bei Konzerten oder per Post zu kaufen sind, ist für die meisten von uns ohnehin längst Realität, aber wenigstens eine Stadt wie London braucht noch gut geführte Geschäfte, wo es sich physisch stöbern lässt, und irgendwas sagt mir, dass Rough Trade diese Funktion noch eine Weile erfüllen wird.
Erstaunlich, wie schnell man seine Anforderungen runterschraubt.
Was wiederum Waterstone's angeht, sind die britischen Buchverkäufe heuer jedenfalls nicht gesunken. Dass trotzdem 20 Filialen geschlossen werden, hat damit zu tun, dass
a) die totale Verwüstung des Buchmarkts durch E-Reader und iPad schon absehbar ist
und
b) Waterstone's während der letzten Jahre seinerseits sämtliche anderen Buchläden verdrängt bzw. übernommen hat und sich infolgedessen mitunter selbst im Weg steht.
Der Auslöser für diese Monopolisierung war das Ende der britischen Buchpreisbindung vor 15 Jahren, die zuerst einen Vorteil für große Ketten bedeutete, mittlerweile aber die wachsende Übernahme des Buchgeschäfts durch die großen Supermärkte und den Bahnhofszeitschriftenhändler WHSmith nach sich gezogen hat.
Die Zuspitzung des Waterstone's-Sortiments auf massenhaft absetzbare Bestseller machte den Verlust der unabhängigen Buchgeschäfte umso schmerzhafter und spielte den in genau demselben Revier fischenden, aber streuungsmäßig weit überlegenen Supermärkten in die Hände.
Spätestens vor drei Jahren, als ich zum Erscheinen des letzten Harry Potter mit meinem damals Achtjährigen um Mitternacht vor Waterstone's Schlange stand und wir dabei die lautstark bekundete Schadenfreude der Leute zu spüren bekamen, die das Werk bei Tesco um die Ecke unter dem Einkaufspreis erstanden hatten, war abzusehen, wohin hier die Reise geht.
Inzwischen sind Waterstone's Konkurrenten Books Etc., Borders und Ottakar allesamt von den High Streets verschwunden. Man spekulierte, dass HMV die Waterstone's-Kette demnächst abstoßen wird, um mit dem Erlös seine Schulden zu finanzieren.
Wenn Waterstone's danach seine Existenzberechtigung bewahren will, muss dort irgendjemand den Mut aufbringen, die ganzen Promi-Autobiographien rauszuwerfen und sich auf die Bücher zu konzentrieren, die die Supermärkte nicht interessieren.
Vielleicht entsteht dabei sogar Platz für eine neue Vinyl-Abteilung.
Bitte, man wird noch fantasieren dürfen.