Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Rocinha"

Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

11. 1. 2011 - 12:45

Rocinha

Rocinha ist nicht, wie oft behauptet, die größte Favela Lateinamerikas, ein eigenes Universum ist sie dennoch.

In den 80er Jahren war das vielleicht so, heute gibt es selbst in Rio Gebiete, in denen mehrere Favelas zusammen gewachsenen sind, und die Rocinha an Größe und Einwohnerzahlen weit übertreffen. Es leben geschätzte 250.000 Menschen in Rocinha und nur 60.000 sind ins Wahlregister eingetragen. Rocinha ist unbestritten nach wie vor eine der bekanntesten Favelas der Welt, und ironischerweise ist dieser Ort, der oft als Synonym für Gewalt und Armut verwendet wird, von großem Reichtum umgeben, sowohl von Naturschönheit als auch von menschlich akkumuliertem Reichtum. Die Siedlung zieht sich in der Bucht von São Conrado den Hügel hinauf.

natalie brunner

In São Conrado gibt es von Zäunen und kleinen Parks umgebene Apartments in Hochhäusern, ein Shoppingcenter für Designerprodukte, das Hotel Intercontinental, eine schmucke Strandpromenade und den Strand. Rocinha und São Conrado trennt eine Schnellstraße. Meine Freundin B., die in São Conrado aufgewachsen ist, hat Rocinha noch nie betreten. Ihr Appartement liegt im 17. Stock eines der Hochhäuser von São Conrado. Manchmal sieht und hört man von ihrem Wohnzimmer aus, wie am Abend Signalraketen in die Luft geschossen werden. „Jetzt sind die Drogen angekommen“, sagt sie, als sie bemerkt, wie ich nervös werde und frage, ob eh kein Geschoß am Balkon landen würde. Ich ärgere mich in diesem Moment, dass ich zum Portugiesisch Lernen meistens nur die miesesten Boulevardzeitungen lese, die ausschließlich aus Geschichten über Waffen und Drogenfunde, Fußball und halbnackten Frauen bestehen: „Polizei beschlagnahmt Krokodil Haustier der Drogenhändler. Raketenwerfer in der Rocinha gefunden.“

B., die Leserin der Qualitätspresse, knabbert seelenruhig weiter an ihrem Abendessen, das die Haushälterin aus der Rocinha zubereitet hat. Ich muss auch die Zeitung wechseln.

natalie brunner

Die Geschichte der Gründung Rocinhas geht bis in die 20er Jahre des letzen Jahrhunderts zurück. In den 50er und 60er Jahren gab es im reichen Süden von Rio, in der Rocinha, einen Bauboom. Arbeiter aus dem Nordosten siedelten sich in Rocinha an, errichteten die Luxusbauten in Ipanema, Leblon und Gavea und machten Rocinha in den 80er Jahren zur größten Favela Lateinamerikas. In den 90er Jahren begann der Drogenkrieg zu eskalieren. Das bisher den Drogen- und Waffenhandel kontrollierende Comando Vermelho bekam Konkurrenz von sich abspaltenden Fraktionen, die einen Krieg um die territoriale Vorherrschaft in den Favelas begannen. Rocinha wurde in den 90er Jahren zu einem wichtigen Umschlagplatz für Kokain.

natalie brunner

„Es gibt keine Diebstähle, Überfälle und Vergewaltigungen in der näheren Umgebung der Favela. Dafür sorgen die Drogenhändler, sie lassen keine nicht von ihnen autorisierten und geplanten Verbrechen zu, an denen sie nichts verdienen.“ Oft habe ich diese Geschichte gehört. Genauso wie die von dem Fahrrad, das gestohlen wurde und ein paar Tage später von der Haushälterin mit Entschuldigungen zurückgebracht wurde. Ich weiß nicht, ob es eine der Urban Legends von Rio ist oder eine tatsächliche Symbiose zwischen einem sehr armen Stadtteil und einem sehr reichen.

Klar ist aber, dass diese Symbiose, falls es sie geben sollte, etwas sehr fragiles ist. Letzen Sommer kam es in São Conrado zu einer Schießerei zwischen Polizei und Banditen und einer Geiselnahme in der Lobby des Hotel Intercontinental. Die extreme Gewalt, unter der die Armen von Rio tagtäglich Leiden müssen, schwappte über in die Welt der Reichen. Internationale Medien fragten sich, ob Rio bereit sei für die Fußball WM 2014, schließlich waren ja „1500 Gäste einquartiert, darunter 300 Ausländer.“ Eine Schießerei in der Rocinha hat selten global für Schlagzeilen gesorgt. Es wird als trauriger Status quo akzeptiert, dass Menschen, die jeden Tag oft für den Mindestlohn von 540 Reais pro Monat zur Arbeit gehen, solchen Lebensbedingungen überlassen werden. Beim Trafico kann man in einer Nacht die Hälfte eines Monatslohns verdienen. Der Eingang zu Rocinha ist Lehrbuchbeispiel für urbane Segregation.

Auf der einen Seite der fetten Durchzugsstraße hohe Zäune und Portierhäuser, die den Eingang zu den Appartementblocks abschirmen, das Intercontinental und die Strandpromenade, auf der anderen Seite ein Gewühl aus Ständen, die Baseballkappen, Turnschuhe, Lacoste Polos aus Plastik und Regenjacken mit AK 47 Aufdruck verkaufen, genauso wie Bars, Lebensmittelläden und kleine Stände, die Telefone entsperren.

natalie brunner

Auch diese Einkaufspassage wird von den BewohnerInnen des Kondominiums nicht benutzt. B. motzt, dass sie extra mit dem Auto in einen anderen Stadteilfahren muss, um Einkäufe zu erledigen.
Der Architekt des modernen Brasiliens, Oscar Niemeyer, hat Rocinha den Entwurf einer Fußgängerbrücke gestiftet.

natalie brunner

Sie führt heute über die Schnellstraße und verbindet Rocinha São Conrado mit dem vom Staat gebauten Sportcenter für die Kinder der Rocinha. Von der Brücke aus sieht man auch die Häuser, die im letzten Jahr bunt angemalt worden sind. So sieht Rocinha freundlicher aus für die Touristen, die in Jeeps oder zu Fuß bei Favelatouren die Hauptstraße hinaufgeführt werden.

Es gibt mehrere AnbieterInnen für Favela Tours in Rocinha. „Triff die Bewohner, lerne die Gemeinde kennen, kauf ihnen etwas Kunsthandwerk ab, unterstütz damit die Gemeinde, und genieß die Aussicht“, so lassen sich ihre Prospekte und Internetseiten zusammenfassen. Für zirka 50 US Dollar kann man „das andere Rio kennen lernen.“ Zirka 3500 TouristInnen besuchen jeden Monat die Rocinha. Die TouranbieterInnen haben Arrangements mit dem die Gemeinde beherrschenden kriminellen Syndikat getroffen. Die Routen sind genau abgesprochen, sie führen nicht an der Boca de Fumo dem Verkaufsplatz der Drogen vorbei und auch nicht an den Punkten, an denen bewaffnete Wachposten installiert sind.

natalie brunner

Je weiter man den Hügel hinaufsteigt, desto schlimmer werden die sanitären Bedingungen. Ich bewundere jede und jeden, der/die es schafft, unter diesen Bedingungen zu leben, und jeden Morgen adrett zurechtgemacht zu seinem/ihren oder ihren Low Pay Job zu pendeln. Wie man es physisch und psychisch aushält, den ganzen Tag in Luxusapartments zu putzen, oder an Supermarktkassen zu sitzen, ist mir ein Rätsel. Wie erträgt man es, als Portier für den Mindestlohn, der zum Überleben oft nicht reicht, eine Marmorlobby zu bewachen, während die eigene Wohnung Lehmboden hat und nicht an die Kanalisation angeschlossen ist?

natalie brunner

Ich bin mit Binho verabredet. Er ist Baile Funk MC, hat aber schon seit längerem nichts mehr veröffentlicht und arbeitet zur Zeit für drei verschiedene Fernsehstationen. Reich wird er davon nicht. Es sind alles Community TV Sender, für die er Baile Funk Programme moderiert. Einer der Sender ist ROC TV, der Fernsehsender der Rocinha.

kurt prinz

Leicht müde holt er mich bei der Busstation ab. „Die Feiertage waren hundert Prozent“, meint er. Speziell für mich oder noch von gestern Abend hat er sich blaue Kontaktlinsen ins Aug gequetscht. Zwei Tage später, als ich ihn das nächste Mal treffe, bereut er das bitter. Das linke Auge hat sich entzündet. Das kommt im Fernsehen gar nicht gut. Binho führt mich durch den unteren Teil der Rocinha zum neuen Studio des Fernsehsenders und bemüht sich sehr, dass ich Fotos machen darf.

natalie brunner

Keine Traficantes dürften auf den Fotos sein, das würde gewaltige Probleme bedeuten. Bevor ich abdrücke läuft er die Straßen ab, blickt in die Seitengassen und hebt entweder den Daumen oder schüttelt den Kopf.

natalie brunner

Viele von den Mädels, die uns entgegenkommen kennt er.
Ein kleines Augenzwinkern hier, kleiner Fingerzeig da, eine junge Dame motzt ihn auch ziemlich an. Ich ziehe es vor wegzuhören.

Es scheint ihm etwas unangenehm zu sein, und Binho beginnt mir ansatzweise sein Leben zu erklären: Zwei Exfrauen und drei Kinder. Von der letzten Ehefrau hat er sich vor acht Monaten getrennt und seitdem nur Komplikationen. Er beklagt sich bitter, dass er keine netten Frauen kennt: „Wenn du im Fernsehen bist, sind viele Mädels hinter dir her, aber eigentlich geht es ihnen nicht um dich, sondern um die Berühmtheit. Das sind nicht die Frauen, die ich kennen lernen will.“ Die entzückende Dame, die im Diskont-Telefonladen arbeitet, muss ich dann aber doch kennen lernen.

natalie brunner

MC Binho moderiert die Fernsehsendung „a hora do funk“. Er spielt Video Clips, interviewt MCs und berichtet live von den Baile Funks in der Rocinha. ROC TV wird gerade umstrukturiert. „Das Prinzip ist, einen offenen Kanal zu schaffen, der 24 Stunden Programm von den BewohnerInnen für die BewohnerInnen macht. Spezielle Fragen und Anliegen die im Fernsehen sonst nicht auftauchen werden aufgegriffen“, erklärt mir Marcello der Programmchef, der im Moment 24 Stunden pro Tag arbeitet und halb über seinem Schreibtisch einschläft.

natalie brunner

„Wir arbeiten mit verschiedensten Formaten. Es gibt die Breakdance Crew der Rocinha, eine Hip Hop Show, es gibt ein Programm, das sich Animation- und Digitalfilm widmet. Die Evangelisten haben ein Programm und eine Sendung über Baile Funk darf da nicht fehlen.“

Binho und ich sitzen im Hof des Senders. Im gleichen Gebäude kann man Surfshorts kaufen, und einen Tierarzt gibt es auch. Ständig tragen Familien in Decken gewickelte Hundebabies vorbei. Kinder rennen irgendwas spielend im Kreis, und sobald sie mein Mikro entdecken ist es vorbei mit der journalistischen Konzentration. Sie wollen auch interviewt werden. Binho versucht sie zu verscheuchen, ohne seinen Redefluss zu unterbrechen.

„Baile Funk ist das popkulturelle und musikalische Rückgrat der Kids aus den Favelas“, meinte er mit den Händeln fuchtelnd, um den 5jährigen, der schon an unserem kleinen Round Table sitzt zu symbolisieren, dass er nicht geladen ist. „Probleme und Themen der Communities werden in ihrer Sprache ausgedrückt. Die Idee war mit der Sendung dem Funk eine Plattform zu geben. Wir möchten dazu beitragen, die Vorurteile gegenüber diesem Musikstil abzubauen. Es ist eine Musik, die unsere Kultur und unser Leben charakterisiert. Ich will die Barrieren zwischen den Fraktionen zerstören. Jeder MC, egal mit welchem Background, kann in meiner Show seine Musik verbreiten“, meint Mc Binho über seine Mission.

Gut vorbereitet, der Kollege weiß, was Journalisten gerne hören, sowas ähnliches steht auch auf der Website seiner Sendung. Soll ich fragen wie viele aktuelle Funk Hits mit edukativen Inhalt ihm auf die Schnelle einfallen?

natalie brunner

„Es gibt vier Arten von Baile Funk“, erklärt er mir: Meldoy, Rap, Montagem und die Proibidãos.

Proibidão, heißt wörtlich übersetzt „streng verboten“ und diese Art von Funk ist ein heikles Thema. MCs sprechen in ihren Texten direkt und positiv über die Taten der DrogenhändlerInnen. In manchen Fällen loben und preisen die Lyrics die Verbrechen oder sind Drohungen an andere Fraktionen. Diese Art von Baile Funk, siehe Gangster Rap, ist Grund für die Diskriminierung und Vorbehalte gegenüber dem gesamten Genre. Proibidão heißt das Subgenre, weil es tatsächlich illegal ist, kriminelle Handlungen zu loben, zu glorifizieren oder zu entschuldigen. Apologia ao Crime ist der Name dieses Delikts. Nach der Polizeiinvasion des Complexo do Alemao kam es zu Verhaftungen von Funk MCs, denen genau dies - eine Apologia ao Crime - vorgeworfen wird. Auch MC Galo einer der wichtigsten, seit über 20 Jahren aktiver Funk MC aus der Rocinha, dessen Nummern jedes Kind kennt, wurde verhaftet.

Wie das klingt kann man aus dem Andreas Johnsons Film über den Baile Funk MC Mr. Catra erahnen. Im Trailer singt Mr. Catra in Rocinha für das Comando Vermelho, das größte der Kartelle. Binho betont, dass er selbst den alten Funk bevorzugt, der korrespondierend zur Hip Hop Old School oft politisch und sozial bewusste Inhalte transportiert und Antidiskriminierungsforderungen stellt. Er ist Funk MC seit er zwölf ist. Zuerst hat er seine MitschülerInnen mit den Raps erfreut, dann ist er durch Bars und Partys gezogen. Seine Schwester erzählt mir später an diesen Nachmittag sehr lustige Geschichten, wie die Eltern ihren Sohn von der Bühne gezerrt haben, weil er jung war für Bailes.

natalie brunner

Seit 22 Jahren ist er im Geschäft und kennt die Baile Funk Welt nicht nur in der Rocinha in- und auswendig. Ich meine, er soll ein Buch über diese Zeit schreiben, vielleicht eine Chance, dass die Leute das komplexe System des Lebens und Überlebens verstehen. „Top Idee“, meint er, und schaut mich an, als hätte ich nicht alle Tassen im Schrank.