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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

3. 1. 2011 - 11:11

Journal 2011. Eintrag 3.

Ohne Gehen geht gar nichts. Wo sich die Kirche der Selbstbesinnung mit dem Parcour des Spechtlschen Flaneurs trifft.

Das Jahr 2011 bietet also wieder ein Journal, ein fast tägliches, wie das schon 2003, 2005, 2007 und 2009 der Fall war.
Ein wenig über 300 Einträge werden da schon zusammenkommen, vielleicht auch mehr. Dazu komplettieren noch die wohl wieder 60, 70 Einträge ins Fußball-Journal '11 die diesjährige Blumenau-Show im Netz.

Meist wird es hier Geschichten/Analysen geben, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/sehen/hört hätte, aber nirgendwo gefunden habe; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Manchmal wie heute etwa wird der Auslöser ein von sonstwem sonstwo geäußerter Gedanke sein.
So wie das, was Andreas Spechtl in seinem auf der FM4-Site veröffentlichten Text Das Flanieren als Lebens-, Denk- und Liebesform erzählt.

Ich gehe, also bin ich.
Jeder Gedanke entsteht im Gehen, in meinem Gehen, in meinem Leben zumindest.
Ohne Gehen geht nichts, gar nichts.
Das hat nicht so arg viel mit der Verherrlichung körperlicher Anstrengung oder sportlicher Betätigung zu tun. Diesbezüglich ist mein Ehrgeiz unterausgeprägt.

Gehen unterstützt den Geist, gehen erlaubt Bewegung jeglicher Art, gehen macht frei.
Gehen ist meine Kirche, der zentrale Ort der Selbstbesinnung.

Wenn ich an einer Problemstellung knabbere, wenn mir der bessere Ansatz für eine Geschichte nicht einfallen will, dann ziehe ich die Schuhe an und bewege mich raus.

Zum Gehen braucht es keine Landschaft, keines der klischeehaften Insignien von Freiheit, weder Monument Valley noch den Wienerwald.
Es braucht kein Ziel, es braucht nicht einmal wirklich viel Platz. Das Gehen auf der Samstags-vor-Weihnachten-Mariahilferstraße kann dieselbe Wirkung entfalten wie das Schlendern auf der Tiber-Uferpromenade.

Das Leben auf vordefinierten Routen

Aus diesem Grund lese ich Andreas Spechtls jüngsten Text über den Flaneur nicht als historisches Traktat, sondern als zeitgenössische Variation.

Klarerweise ist der von ihm verwendete Begriff eng an eine bestimmte Zeit, an bestimmte Ideen und Ideologien gebunden – das Ziel war aber wohl die Befreiung aus diesem von unseren Zuschreibungen gerüsteten Käfig in eine aktuelle Form.

Den Flaneur des Jahres 2011 drängt es aus den vorgegebenen Routen und Routinen – ein wahrhaft schwieriges Unterfangen, wenn es doch so praktisch ist sich quasi automatisiert, wie auf Schienen durch die Welt/das Leben zu bewegen. Und dabei ist es egal, ob es sich beim zu durchschreitenden Ort um den Lebensmittelpunkt oder einen kurzzeitigen anderen Aufenthaltsort handelt – die vordefinierten Routen sind so clever mit Honigfallen ausgelegt, dass selbst der scheinbar individuellste der Individualtouristen dran festklebt.

Eigentlich, und das war das erste, was mir an Spechtls Darlegung seines (angestrebten) Ideals auffiel, eigentlich bin ich, als Geher, das Gegen-Modell zu seinem Flaneur.

Weil ich das Gehen als meine Kirche betrachte, also als inneren Ort der Einkehr, als Maschine für die dafür nötige tranceartige Kontemplation – und weil es deshalb aus sich selbst auf Schienen verläuft, sich die Wege sucht, die es kennt, und deshalb auf den inneren GPS-Bahnen verläuft.

Das Netz, das das Gehen auswerfen kann

Um hier einen aktuellen Geh-Beleg einzusortieren: es war angeblich ein Zufall, dass die ein wenig verrückten Stadtgeher von WildUrb zum Start ihrer Seite ausgerechnet mich zum Thema Gehen ausfragen wollten. Aber natürlich gibt es keine Zufälle.

Wenn man seine Stadt gut kennt, wie ich das tue, wenn man seiner Stadt vertraut, wie ich das tue, wenn man seiner Stadt etwas zutraut, wie ich das tue, dann ist allerdings mehr möglich – das Netz, das mein Gehen auszuwerfen versteht, ist dicht gewebt; mein internes Navigations-System erlaubt mir an den meisten Ecken zwei oder gar drei mögliche Richtungen zu nehmen.

Und im besten aller möglichen Fälle steht am Ende des unterbewusst vorgenommenen Gehens, dann, wenn sich die zu bearbeitenden Problemstellungen und Geschichten-Ansätze in Lösungen verwandelt haben, dann, wenn ein Art Erwachen eine ganz andere Umgebungs-Wahrnehmung ermöglicht, eine kaum/selten/gar noch nie begangene Gegend mit vorher unaufgefallenem Rohmaterial. Und das könnte der sensibilisierte Moment sein, von dem Sprechtl spricht. Und in diesem Moment deckt sich der Geher dann mit dem Flaneur.

Andreas Spechtl ist Sänger, Gitarrist und Autor der Gruppe Ja, Panik, die im April ihr neues Werk präsentieren wird. Bis dorthin schreibt Spechtl bei und für FM4 regelmäßig über das Überleben in der Metropole. Ich mag das.

Spechtls radikale Forderung nach der Spiegelung dieser entschleunigten Wahrnehmung, die dem Routen-Abgängigen zuteil wird, in die anderen Lebenswelten, die digitalen zumal, die sich an den Routen des Menschen, an seinen Daten und Fingertapsern gütlich tut wie der Vampir am Jungfrauen-Hals, hängt dem Geher einen wahren Mühlstein an Utopie um.

Aber das macht nichts.
Es wird sich erkennen lassen, zumindest in einer tangentialen Annäherung.
Beim nächsten Gang dann.