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Martin Blumenau

Geschichten aus dem wirklichen Leben.

2. 1. 2011 - 11:11

Journal 2011. Eintrag 2.

Live will never be the same. Ilmenau grüßt Pjöngyang. Über eine an- und ausstehende Debatte.

Das Jahr 2011 bietet also wieder ein Journal, ein fast tägliches, wie das schon 2003, 2005, 2007 und 2009 der Fall war.
Ein wenig über 300 Einträge werden da schon zusammenkommen, vielleicht auch mehr. Dazu komplettieren noch die wohl wieder 60, 70 Einträge ins Fußball-Journal '11 die diesjährige Blumenau-Show im Netz.

Meist wird es hier Geschichten/Analysen geben, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/sehen/hört hätte, aber nirgendwo gefunden habe; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.

Heute z.B. etwas über eine Forschungs-Arbeit der TU Ilmenau. Die haben ein neues System namens "Diminished Reality-System" entwickelt, das Gegenstände oder Personen verschwinden lässt, und zwar (brand new) bei Live-Übertragungen; in Sekundenschnelle. Bild-Manipulation in Echtzeit.

Neue Technologien - immer doof. Dazu da, sich zu empören und an potentiellen Gefahren aufzugeilen.
Hatten wir erst gestern - aber selbst wenn man die Muster erkennt, kann das passieren. Mir bei etwas, was ich kürzlich, quasi aus dritter medialer Hand erfahren habe.

Nämlich die Sache mit der Live-Bilder-Manipulation, die an einer Uni in Deutschland entwickelt und stolz vorgestellt wurde, als wäre das einfach ein weiteres Techno-Tool und nicht die gefährlichste Medien-Waffe seit langer Zeit.
Auch weil, wie so oft im Wissenschafts/Technik-Bereich nur scheinobjektiv und arglos präsentiert wird, ganz ohne Philosophie-Geschichte des entsprechenden Fachs, also ohne Nachdenken über Folgen und Implikationen. Und selbstverständlich, beim Zustand des Wissenschafts-Journalismus im Allgemeinen, ohne jegliches öffentliches Nachdenken.

Die Genese der Geschichte ist schnell erzählt.
Im Oktober präsentierte die Technische Universität Ilmenau in Südthüringen, nahe der fränkischen Grenze, genauer Wolfgang Broll, Projektleiter für das Thema "Virtuelle Welten", ein Verfahren mit dem schönen Titel Diminished Reality-System.
Die entsprechende Pressemitteilung landete, per Copy/Paste und ohne jemals analysiert zu werden in allen relevanten Wissenschafts-Publikationen (egal on Print oder Web) und blieb auch dort. Also im Insider-Zirkel.

Das Projekt war bei einer internationalen Konferenz namens ISMAR in Seoul, Südkorea, erstmals vorgestellt worden und setzt, als Bildbearbeitungs-Tool ganz logisch, auf die Macht der Optik.

Reduzierte Wirklichkeit anstreben?

Praktisch niemand setzte die "Reduzierte Realität" die Professor Broll da freudig propagierte, auch nur ansatzweise in irgendeine Relation. Hier eine der seltenen Ausnahmen, die Vergleiche mit dem Human Reshaping, das künftig die Film/TV-Industrie dominieren wird, zieht. Immerhin.

Der wissenschaftliche und wissenschaftsjournalistische Mainstream hat sich maximal mit Themen wie der potentiellen Verwertbarkeit auseinandergesetzt.

Das ist ganz vorwurfsfrei zu verstehen. Praktisch jede neue Technologie wird zuerst von Technikern und Naturwissenschaftern durchgekaut und abgeklopft, ehe sich die ersten Betrachter einfinden, die die wirklich relevanten Fragen stellen: die nach der Bedeutung für gesellschaftliche Zusammenhänge und soziale Gemeinschaften, politische Folgen etc.

Auch die bereits über einige Jahre reichende Diskussion um die digitalen Medien wird (Stichwort: iPad-Blenderei) immer noch von den Techno-Babblern mitbeherrscht, obwohl sich das längst hätte anders gewichten müssen.

Im Fall der Manipulations-Möglichkeit von Live-Bildern hätte ich mir allerdings eine schnellere Einbindung in die gesellschaftliche Realität erwartet.
Denn selbst wenn das System noch Kinderkrankheiten aufweist und wohl erst in ein, zwei Jahren Industrie-Reife aufweisen kann: das Verfahren gibt es, die Interessenslage sowieso - also wird es umgesetzt werden; was eine Debatte notwendig macht.

Bild-Platz für Neues schaffen?

So dauerte es zwei Monate ehe die Nachricht aus den Wissenschafts-Ghettos, die ganz offensichtlich über keinerlei Publikums-Relevanz verfügen, in die Mitte der Öffentlichkeit rückte. Zunächst war es die konservative Welt. Der Ansatz der Story ist bezeichnend: der zentrale Begriff ist "wie von Zauberhand", als ginge es um einen Kartentrick aus dem Zauberkasten für Kinder. Dann wird von industriellen Anwendungen gesprochen, dem problemlosen Verschwinden-Lassen-Können für Computer-Simulationen. Und am Schluss erst geht es um potentielle Gefahren. Und Professor Broll warnt, selbstverständlich, vor Missbrauch.
Dass die Wirtschafts-Anwendungen alle bereits existieren und dass der unique selling point im Diminished Reality-System der Live-Faktor ist, bleibt in der Berichterstattung irgendwie außen vor.

Hat wohl auch damit zu tun, dass genau dort, bei den lässigen Live-Zensur-Möglichkeiten die stärkste kommerzielle Verwertbarkeit des Systems liegt. Auch wenn Prof. Broll das noch so verklausuliert. Er spricht von der gezielt einsetzbaren Möglichkeit, visuelle Eindrücke zu reduzieren, wegen der allgemeinen (und dann wird er sehr plakativ und hoch-unwissenschaftlich, wie in einem Verkaufs-Gespräch) Überflutung mit Reizen und Informationen. Das System erlaube "sich auf die wichtigen Dinge zu konzentrieren und fehlenden Platz für Neues zu schaffen."
Das erinnert mich an etwas aus der jüngeren Geschichte, ich komm grad nicht drauf...

Interessanterweise wurde die Präsentation ja in Südkorea durchgeführt, in einer Region also, wo sich die potentielle Kundschaft eines solchen Unterdrückungs- und Manipulations-Systems in Rufweite befindet. Ilmenau grüßt Beijing, Ilmenau grüßt Pjöngyang.

Der Zwischenruf mit der Bombe

Knapp vor Jahreswechsel fand die Meldung ihren Weg nach Österreich, ins Wirtschaftsblatt, thematisch und ideologisch der Welt sehr nahe. Aber immerhin: Dort wurde das Gefahren-Moment deutlich früher und genauer angesprochen.

Ha, jetzt ist mir eingefallen, woher mir die Broll'sche Diktion und ihre Denkrichtung so bekannt vorgekommen ist. So ähnlich, mit der Konzentration aufs Wesentliche und dem Platz-Schaffen hatten damals, Ende der 70er, die Erfinder einer völlig neuen Nuklearwaffe, der speziell auf Resourcen-Schonung abzielenden Neutronenbombe argumentiert. Dass man damit nämlich nur die beschossenen Feinde ausradieren würde und die Infrastruktur des Kriegsaufmarschgebietes intakt bleiben würde; halt bis auf die lästigen Kollateralschäden, die sehr sehr vielen toten und verseuchten Menschen.
Auch eine Methode Platz für Neues zu schaffen.Und ähnlich gewitzt argumentiert wie von Broll. Ja, das war's, an was ich erinnert wurde.

Propaganda-Fälschung, noch leichter gemacht

Um auf den Anfang zurückzukommen: Es ist schon ganz schön absurd, wenn ausgerechnet jemand, der sich in den letzten Jahren als größter Verachter und Spötter der technologie-ängstlichen Hyperventilierer hervorgetan hat, jetzt selber zum Kassandristen wird. Ja, ich weiß eh.

Aber: mir geht es gar nicht um die Verteufelung von neuer Technologie.
Irgendwann, das ist bei nur kurzem Nachsinnen sonnenklar, würde selbstverständlich auch das Live-Bild manipulierbar werden. Eine direkte Folge der allzu leichten Manipulierbarkeit von jeglichem optischen Medium, von den ominpräsenten, peinlich gefotoshoppten Cover-Models (die mit diesen Maßen und Formen gar nicht lebensfähig wären) über politische Propaganda per Foto-Fälschung, bis hin zur zeitversetzten Fake-Live-Liveshow.

Damit wird man leben müssen. Auf eine aufgeklärte Generation gut ausgebildeter Medien-Konsumenten hoffen (gibt es die seit Jahren versprochene Medienerziehung eigentlich schon in Österreichs vorletztem Schulsystem?) und die Fantasie der Menschen nicht unterschätzen.
Letztlich ist dieses Ende der Gewissheit, dass Live, und zwar nur Echt Live oder Live-Live, wie die TV-Fritzen sagen, unmanipulierbar ist, auch ein Rückenwind-Boost für die Qualitäts-Medien, die durch ihre Anwesenheit bei Ereignissen künftig noch bedeutsameres Zeugnis ablegen müssen. Und daraus eine wieder tatsächlich relevante Rolle beziehen können. Was natürlich und zuvorderst ein Ende des Copy-Paste-Journalismus heutiger Prägung bedeuten müsste, also eine Kostenfrage ist, also wohl wieder am öffentlich-rechtlichen Sektor haupthängenbleiben wird.

Die Nordkoreanisierung des Live-Fernsehens

Allein der letzte Absatz wirft ein dutzend weiterer Fragen auf.
Fragen, die weitaus bedeutsamer sind als die, wann das Diminished Reality-System tatsächlich einsetzbar sein wird.

Letztlich geht es (mir) darum, die technologischen und wissenschaftlichen Entwicklungen dem Exklusivgriff der allzumeist auf Technik und Fakten zurückgeworfenen Naturwissenschaften zu entringen und gesellschaftlich verantwortungsvoll zu diskutieren.
Das ist nämlich dringend nötig - das sieht man am Beispiel der Neuronal-Forschung, die nicht nur die meisten Fördergelder verschlingt, sondern auch gleich die Definitions-Hoheit über das selber Geschürfte überantwortet bekommt, egal ob von politisch Verantwortlichen oder Medien. Das ist in etwa so, als würde man den Goldgräber zum Bürgermeister von Klondike machen.
Oder im Falle Ilmenau/Broll: den Handlanger der Fälscher zur moralischen Instanz.
Zu mehr als "warnenden Worten", die sich jetzt schon gegen Vorwürfe der Nordkoreanisierung des Live-Fernsehens absichern wollen, das hat sich aktuell bewiesen, reicht es von Erfinderseite nämlich nicht.