Erstellt am: 1. 1. 2011 - 11:11 Uhr
Journal 2011. Eintrag 1.
Das Jahr 2011 bietet also wieder ein Journal, ein fast tägliches, wie das schon 2003, 2005, 2007 und 2009 der Fall war.
Ein wenig über 300 Einträge werden da schon zusammenkommen, vielleicht auch mehr. Dazu komplettieren noch die wohl wieder 60, 70 Einträge ins Fußball-Journal '11 die diesjährige Blumenau-Show im Netz.
Meist wird es hier Geschichten/Analysen geben, die ich als passionierter Medien-Konsument selber gern gelesen/sehen/hört hätte, aber nirgendwo gefunden habe; und deshalb selber ausforschen und durchdenken muss.
Heute z.B. etwas über die anlässlich der Vier-Schanzen-Tournee ins Zentrum des Interesses gerückte neue Windregel, und ihre philosophisch gewagte, weil gesellschaftlich derart eklatant gegenläufige Grundaussage.
Neue Technologien - immer doof. Dazu da, sich zu empören und an potentiellen Gefahren aufzugeilen.
Nach dieser Grunddisposition des Menschen (die aus seiner Trägheit, Feigheit und Denkfaulheit herrührt) verfahren - in Zeiten der panischen Angst-Schwätzerei alter Eliten zum Themenkomplex digitalen Medien mit deutliche lauter veröffentlichten "Hört, hört!"-Rufen begleitet - nicht nur die prinzipiell dem Bewahrertum Verfallenen, sondern auch die kritischen Zweifler. Wie zuletzt im Fall Wikileaks, als sich eine gar seltsame Koalition auftat.
Das passiert auch im Kleinen und sogar im Allerkleinsten. Denn überall könnte der Damm brechen, überall die Schleusen geflutet werden - was selbstverständlich und wie immer den Untergang des Abendlandes zur Folge hätte.
Eine solche Kleinst-Angelegenheit ist eine heuer im Weltcup der Nordischen Athleten, Abteilung Skisprung, eingeführte Neuregelung der Punkte-Vergabe, kurz die Windregel genannt.
Im Wesentliche geht es dabei darum, dass die bisher aus Weite und Stilistik zusammengesetzte Bewertungs-Note um zwei weitere Faktoren ergänzt wird: die äußeren Umstände (den Wind) und die Anlauf-Länge.
Bislang wurden unterschiedliche Windverhätlnisse (Aufwind trägt den Springer, Seitenwind stört, Rückenwind killt etc...) wie ein Gottesurteil hingenommen worden. Und: wenn es wegen eines Wetterumschwungs zu weit ging und der Anlauf verkürzt werden musste, musste abgebrochen und neugestartet werden - ungerecht und, zugegeben, auch TV-unfreundlich.
Die Angst vor der ausgleichenden Gerechtigkeit
Beides wird seit dieser Saison durch eine ganz simple computergestützte Rechnung ausgeglichen. Weniger Anlauf bedeutet: soundsoviel Pluspunkte, desgleichen weniger Wind. Tolle Windverhältnisse, die den Springer wie aus dem Nichts allzu weit tragen, bringen hingegen Abzüge.
Die Reaktionen kamen wie das Amen im Gebet: ein Wahnsinn wäre das, ein Eingriff in eine Art "Natur", die die bisherige, eh auch schon auf subjektive Art - über Stilnoten - zustandegekommene Wertung beeinträchtigen würde: Der Untergang des sportlichen Abendlandes eben.
Da konnten die Ex-Springer die neue Regel fast durchgängig als Fortschritt bezeichnen, die Chef-Sport-Kommentatoren der alpinen Regionen schüttelten ihre Häupter in Ablehnung.
Es erinnert fatal an eine der letzten großen Umstellungen im Skisprung: als die Weitenmessung nicht mehr per Augenmaß sondern elektronisch vorgenommen wurde: Auch damals handelte es sich um einen ähnlichen Untergang alter Kulturen.
Aktuell ist die Windregel bei der Vier-Schanzen-Tournee im Einsatz, weshalb sie mehr als nur die Experten interessiert: ein Massen-Publikum rätselt ein wenig über die neu eingeblendeten Zahlen und kann sich nicht wie bisher ganz so deppensicher sein, dass der Weiteste vorne ist. Vor allem in Qualifikationen wird einiges gewürfelt und probiert, mit der Anlauflänge experimentiert.
Im Bewerb selber, in Oberstdorf, der ersten Station, hat das alles dann keine entscheidende Rolle gespielt - die K.O.-Regel im 1. Durchgang blendet Wind/Anlauf-Unterschiede eh aus und im 2. Durchgang, wenn die Allerbesten unter sich sind, zählt dann auch die finale Competition der Top 4 oder 5.
Wieder einmal: der Untergang des Abendlandes
Für die Vorkämpfe und auch das Mittelfeld ist die Windregel ungleich wichtiger, weil gerechter.
Und für das Publikum vorort wird die für TV-Zuschauer längst sichtbare Linie der Sollweite um in Führung zu gehen, auch kenntlich gemacht - auch das wird aktuell und computergestützt besser informiert denn je.
Ich habe beim zweiten Mal zuschauen alles kapiert und kann anhand der Plus/Minus-Windpunkte auch deutlich erkennen, welche Verhältnisse der Springer eben hatte, ohne auf die Mutmaßungen der auch oft nur ratenden Experten-Kommentatoren angewiesen zu sein.
Letztlich hat sie sich auch im völlig verwordackelt durchgeführten Neujahrsspringen in Garmisch bewährt: Ohne Wind/Luken-Ausgleich wäre nicht einmal ein Durchgang möglich gewesen. Was zwar einige für eh besser halten - dies aber nur angesichts des Österreicher-Absturzes.
Dafür dass die neue Regel erst ein paar Wochen den Ernstfall durchläuft, funktioniert sie bereits vergleichsweise erstklassig. Das war auch in Engelberg oder davor in Skandinavien so.
Deshalb ist das fortlaufende Genörgel daran auch so interessant. Denn es zeigt, dass es nicht vorrangig um die konkrete Regel geht, sondern um das Prinzip dahinter.
Das spüren die Kommentatoren, die (wie das im Sportbereich tendenziell üblich ist) zu den strukturkonservativsten und prinzipiell technologiefeindlichsten ihrer Zunft zählen. Und deshalb den Esel meinen, wenn sie den Sack schlagen.
Die Spielwiese des Kapitalismus als Regulator
In einer an sich rigiden und an Zahlen und Bilanzen orientierten Welt wie der des Sports gelten keine ausgleichenden Werte, zählen soziale Skills nicht direkt und werden durch Zufall entstandene Vorteile nicht ausgeglichen.
Und darin ist der Sport-Bereich dem der Ökonomie durchaus ähnlich.
Letztlich ist der Sport die optimale Spielwiese des Kapitalismus - was dort funktioniert und nicht funktioniert wird sich auch im echten Leben durchsetzen oder schwertun. Die (in den letzten Jahrzehnten) zunehmende Entsolidarisierung der mitteleuropäischen Gesellschaften etwa hat sich im Sport schon exemplarisch vorabgezeichnet.
Die Windregel bricht diese scheinbar von Naturgesetzen untermauerte Vorherrschaft nun auf geradezu perfide Weise: Sie reguliert und gleicht aus, wie es im politischen und ökonomischen Leben ein gut funktionierender Staats-Apparat tun würde. Der von den Zufällen des Marktes, pardon der Umweltbedingungen, benachteiligte, bekommt nicht mehr - wie bisher - die lange Nase und ein paar bemitleidende Worte: Es werden Ausgleichs-Zahlungen (in Form von Punkten) geleistet. Die, die über schlechtere Vorraussetzungen verfügen, bekommen ebenso einen entsprechenden Bonus.
Das ist, auf ökonomische Verhältnisse umgelegt, fast schon angewandter Marxismus. Die, die mehr haben, werden quasi besteuert, die, die aufgrund schlechterer Startbedingungen weniger bekommen haben, werden angeglichen.
Regulierung eines pseudogerechten Wildwuchers, durch den Veranstalter - das wäre im allgemeinen Fall eben der Staat. Und nichts fürchtet der Turbo-Kapitalismus so sehr wie dessen Zugriff.
Elegante Gleichmacherei statt überkommener Ideologien
Letztlich ist das das perfekte Leistungs-Prinzip eines, das die Relation von Ausgangslage und Glück miteinberechnet. Und so die tatsächliche Leistung, nicht die von Vorfahren oder Anschiebern, von günstigen Bedingungen und Zufällen, würdigen.
Das ist so antikapitalistisch wie's nur geht.
Und natürlich macht so ein Modell der "Gleichmacherei" Angst; vor allem, wenn es so gut funktioniert; und wenn es vorzeigt, dass es gehen würde, in Einzelbereichen und Sachfragen.
Das ist wie wenn man die im sozialen und gesellschaftspolitischen Bereich alles überlagendern Ideologien ausschalten und an die Sache denken würde. Wie in fast allen Bildungsangelegenheiten, wie in der Gesamtschulfrage, die sich in reiner Geiselhaft einer überkommenen Ideologie befindet oder in Uni-Zulassungs-Fragen.
Da wird entweder so getan als hätten Start-Vor/Nachteile oder Sozial/Umwelt-Bedingungen eh nichts zu sagen und als wären alle gleich - den zunehmend verschäften Klassen-Abgrenzungen im Lande (Stichwort: Zweiklassen-Medizin) zum Trotz.
Morgen hier im Journal: noch einmal Technologie-Angst. Live will never be the same.
Klar ist eine sportliche Kleinigkeit wie die Windregel, die ausgleicht und Gerechtigkeit schafft, kein eins zu eins übernehmbares Modell für Wasauchimmer-Anderes.
Bloß: Das schiere Denk-Modell ist es wert, genauer betrachtet zu werden. Es wird sich allerdings nur dem erschließen, der klassisches Kastldenken wie die Trennung von Sport und Ökonomie überwindet.