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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

31. 12. 2010 - 16:28

Ein Musik-Jahresrückblick, Teil 2

Ein kurzes Flüstern.

Sein drittes Solo-Album hat Hendrik Weber in einem Haus in der Schweizer Provinz aufgenommen. Kurz vor Erscheinen der Platte konnte man den Künstler in Interviews Sätze wie die folgenden sagen hören: "Dieses Haus steht an einem Schuttberg, das heißt der Berg ist 1815 nach einer Trockenperiode und tagelangem Regen abgerutscht und hat ein Dorf unter sich begraben. Dieser Ort ist also sehr aufgeladen und birgt eine gewisse Melancholie in sich. Die gewaltigen Kräfte der Natur werden hier sichtbar und greifbar."

Pantha Du prince black noise cover

Pantha Du Prince

Pantha Du Prince - Black Noise (Rough Trade)

Im Vergleich zur magischen Pracht der Vorgängers "This Bliss" mag "Black Noise", das dieses Jahr erschienene Album von Webers eleganter Alias Pantha Du Prince, zunächst als kleine Enttäuschung angemutet haben, tatsächlich aber ist die Platte seine bislang komplexeste und an unprätentiösem Zierrat reichste. Auf die leicht und grandios zu durchleidenden Gefühlswallungen früherer Platten hat er hier über weite Strecken verzichtet: Für "Black Noise" hat Weber Tage an Material, Field Recordings und Instrumenten, Harfe, mit Metallstücken sauber präparierte Saiten, ins Aufnahmegerät gespeist - Quellklänge, die in Folge nach akribischer Schneidearbeit einzig als kurze Sekunden, als Fragmente eines Sounds Eingang in das kolossale Wandgemälde gefunden haben, das diese Platte ist. Ein Atemhauch, ein Hund bellt, die Holzdielen knirschen.

Musik-Rewind, Teil1: 2010 war endgültig das Jahr des Hypnagogic Pop: Halbschlaf, Unschärfen und Verwischungen. Polaroid-Nostalgie, melancholische Echos, ein verwackeltes Leben in Schwarz-Grau

Nun schwingt hier eben nicht der Bombast des Kunstsein-Wollens mit, vielmehr bannt "Black Noise" seine Umwelt durch seine Zerbrechlichkeit und Klarheit; es ist Schneekristall-Techno von höchster Grazilität, durchwebt von tausendundzwei kleinen Glockenklängen, der Ballast der Vergangenheit glimmt nur leise im Nebenraum. Eleganz, Melancholie und Romantik, Popper- und Philosophen-Look in Schwarz-Grau, fast durchgehend in ebenjenen blassen Nicht-Farben gehaltene Cover-Artworks, schickes Hemd und Schal, Kunstschul-Nähe und nordische Distinguiertheit: Das Hamburger Label DIAL, der Heimathafen von Pantha Du Prince, wird seit seiner Gründung vor 10 Jahren von Begriffen, Zuschreibungen und Düften umschwirrt, die im Segment "Techno/House" als Image-Spender nach wie vor eine Seltenheit sind. Nun mag die "Idee" von DIAL von außen betrachtet ein wenig überinterpretiert und von den Machern gar nicht so klar am Reißbrett entworfen sein - dennoch ist DIAL ein Label mit schicker Linie und starker, dabei stets höflich-unaufdringlicher Identität. Ein Label von nobler Zurückhaltung und gutem Benehmen, ein Label für Tanzmusik, das nie komplett auf die Glocke haut, sondern in den Tiefen von House den Feingeist aufbohrt. DIAL, das Label, das 2010 relativ unangefochten als das Label des Jahres dasteht.

DIAL 2010

DIAL

DIAL 2010, Geburtstagslabelcompilation des Labels des Jahres

Zwar hat Pantha Du Prince sein Album "Black Noise" ausnahmsweise nicht bei DIAL, sondern bei Rough Trade veröffentlicht, da der Mann aber nach wie vor zur aus nicht mehr als einer Handvoll Mitgliedern bestehenden Kern-Besetzung von DIAL gehört, den Sound des Labels entscheidend mitgeprägt hat und immer noch prägt, ihn jetzt bloß eben weiter in die Welt hinausträgt, ist es also allerhöchstens nur geringfügig - wenn überhaupt - verstiegen, ihn auch dem Zauber zuzurechnen, den DIAL 2010 an allen Ecken und Enden versprüht hat.

DIAL war noch nie ein Label, das sich ausschließlich um schnöde Dancefloor-Kompatibilität geschert hat, 2010 aber erblühte hier endgültig in prächtigster Form, was da seit einigen Jahren so schön "Autoren-Techno" geheißen wird. Zudem wurde abseits des für ein Dance-Label üblichen Kerngeschäfts - der 12" für den Tanzboden - die Kunstform des Albums kultiviert. Neben eben "Black Noise" quasi aus dem Off, sind vergangenes Jahr nun tatsächlich auf DIAL zwei in jeder Hinsicht umwerfende Alben erschienen: "Chicago" von Efdemin und "Glass Eights" von Label-Neuzugang John Roberts - das Elektronik-Albums des Jahres. Die Wurzel beider Alben liegt freilich nach wie vor im House begraben, wie sich aber hier die Grenzen auflösen zwischen gerader Bassdrum und Experiment, zwischen filigranem Tasten und Suchen und straffer Organisation, zwischen Ekstase und einer Wonne, die dem Eisregen gleich die Wirbelsäule durchkühlt, das hat man auf einer Platte unter der Losung "Dance" so noch selten erfahren dürfen. Neben den, ja, Meisterwerken von Efdemin und John Roberts hat DIAL im vergangenen Jahr zudem ein immerhin sehr gutes Album von Pawel (einstmals: Turner) und eine großartige Label-Compilation zum 10-jähirgen Bestehen veröffentlicht, die fast ausschließlich exklusive Tracks der DIAL-Mannschaft Lawrence, Carsten Jost, Efdemin, Pantha Du Prince sowie Freunden wie Isolée oder Christian Naujoks featuret. DIAL ist ein wehmütiges Flüstern, ein Label zwischen Galerie und Club, zwischen Minimal Music, dem Pochen der Maschine und einer kleinen Pianofigur, die Erik Satie gerade nebenbei aus den Fingern geglitten ist.

John Roberts

John Roberts

John Roberts, "Glass Eights" (DIAL), erlesenste House-Zerlegung, elektronisches Album des Jahres

Der Newcomer des vergangenen, wie auch vermutlich des kommenden Jahres, wenn sein Debüt-Album erscheinen wird, ist der Engländer James Blake. Der Dampfwolke von Post-Dubstep aus nächster Nähe des Duos Mount Kimbie entstiegen, hat Blake diese Jahr vier EPs veröffentlicht, die zwischen gelenkiger Beat-Rekonfiguration, R'n'B-Umdeutungen, "Klavierwerken" und der atemberaubenden Cover-Version von Feists "Limit To Your Love" tatsächlich weites Terrain durchmessen.

James Blake

James Blake

James Blake

Bevor man jedoch durch "Limit To Your Love" erfahren durfte, dass Blake selbst mit edelstem Schmelz zu singen im Stande ist, hat der junge Produzent eher als ein Meister der Stimm-Modulation von sich hören lassen. In seinem Track "CMYK" etwa, einem Stück des Jahres, hat er Fetzen aus einem Kelis-Song neu adjustiert, anderswo Schnippsel seiner eigenen Stimme kunstvoll manipuliert in den Mix geschnitten.

Forest Swords

Forest Swords

Forest Swords - Dagger Paths (Olde English Spelling Bee)

Vermutlich in Folge der skalpellbeflügelten Sample-Kunst von Dubstep-Großmeister Burial hat sich dieses Jahr vor allem im UK eine Tendenz zum Einsatz von mikroskopischen, kaum spürbaren Vocal-Samples abgezeichnet. Stimmen, die aus dem Jenseits durch dreißig Lagen beigen Gelees in unser Bewusstsein dringen wollen. Das großartige, leider vielleicht etwas wenig bekannte Album "Dagger Paths" des jungen britischen Musikers und Produzenten Forest Swords erschafft hier Welten des Wahnsinns, finster sind sie auch. An der Schnittstelle von böse klapperndem Dubstep und an akustischem Instrumentarium zusammengenageltem Todes-Postrock erheben sich hier Klang-Labyrinthe, in denen Witch House als drolliger Party-Joke verebbt. In bloßen Lauten und ausgemergeltem Wehklagen hören wir aus der Ferne Stimme zu uns rufen. Was wollen sie von uns?

Four Tet Cover

Four Tet

Four Tet - There Is Love In You (Domino)

"Angel Echoes" hat Kieran Hebden gleich den Eröffnungstrack seines diesjährigen Four-Tet-Albums "There is Love In You" genannt. Zwar prägnant hörbar und als Thema den ganzen Track tragend, aber dennoch wie in Watte gepackt und bruchteilhaft aus einem anderen Kontext geschnitten, singt hier der Nachhall einer Engelsstimme das Wiegenlied. Kieran Hebden und sein Kumpel Dan Snaith, besser bekannt als Überraschungsstar des Jahres Caribou, haben 2010 verstärkt die Freude an der Tanzmusik entdeckt. Sie spielen sich jetzt nicht mehr bloß selbst gegenseitig ihre jeweiligen Musik-Enzyklopädien vor, Free Jazz, Krautrock, Noise, Pop, Psychdelia, Folk und Elektronik, sondern drehen auch im Club die Platten, und droppen die heißesten Bomben, die sie vorgestern in Berlin bei Hard Wax aus der Kiste gefischt haben.

"There Is In Love In You" von Four Tet und "Swim" von Caribou waren dieses Jahr die zwei Alben, auf denen zumindest ansatzweise eine neue Form von Pop ausprobiert wurde. Das ganze Musikgeschichtswissen der ganzen Welt vergleichsweise kleinteilig und subtil im Fundament verschnitten, verhaltene, zerbrechliche Schwermuts-Gesänge, alles neu aneinandergekittet und über den Rythmus der geraden Bassdrum geschnallt. Was dabei "Swim" quer durch die Fraktionen so erfolgreich gemacht hat, ist, dass hier die viel besungene Verschiebung zwischen den Formaten Song/Track gar nicht mehr hörbar oder überhaupt noch Thema ist: Hier existiert alles in- und übereinander, rotiert, zirpt und fließt. Oder kann auch relativ autark nebeneinander stehen: Hier der ziemlich straighte Popsong "Odessa", da das singende Techno-Topf-Orchester von "Bowls", das Dan Snaith vermutlich aus dem Ersatzteillager von Pantha Du Prince gestohlen hat. Man könnte dieser Platte vielleicht vorwerfen, dass sie viel zu smart ausgedacht ist, viel zu leicht zu hören und zu begreifen ist, ein mixed bag, der es allen recht machen möchte. Oder aber man könnte behaupten, dass "Swim" in 10 Jahren vielleicht in einem Atemzug mit "Kid A" genannt werden wird, eine Platte, die dem Leben eine neue Dimension geben kann. Eine Platte, die dich an der Hand nimmt und sagt: "Schau, du musst nur durch die Türe gehen."

Caribou

Caribou

Dan Snaith, Caribou

Wie nicht selten stand 2010 vor allem im Gitarrenlager die Zeit besonders aufdringlich still. Die großen Namen The National, Vampire Weekend und Arcade Fire (Wunderbare-Jahre-hafte Zurückerinnerung an die Jugend in Vorstadtgärten) haben sehr gute, wenngleich für ihre Verhältnisse auch schon traditionelle bis bloß solide Alben veröffentlicht.

Frankie Rose & The Outs

Frankie Rose & The Outs

Frankie Rose & The Outs

Dass letztere beiden dabei mit ihren Platten jeweils auf dem ersten Platz der US-Charts gelandet sind, durfte da noch einmal der guten alten Diskussion Indie vs. Mainstream etc.blabla Feuer geben. Aufrüttelndere Musik kam da vielleicht eher vom Trio Male Bonding aus London, das klang wie ein Trio aus Seattle, L.A. oder Washington D.C. und auf seinem bei Sub Pop erschienen Debütalbum "Nothing Hurts" vorgemacht hat, wie man mit süßlich nach Vergangenheit schmeckenden 2-Minuten-Krachern zwischen Hüsker Dü und Nirvana (Bleach-Phase) amtlich die Garage zerlegt. Auch herrlich durch: Die Gruppe Girls aus San Francisco, die mit der "Broken Dreams Club" - EP eine Art weiterführendes, dabei den Stil sanft aufpolierendes Companion Piece zu ihrem im Vorjahr erschienen "Album" ins Regal gestellt hat. Mit "Substance" enthält "Broken Dreams Club" einen der Top 5 Songs zum Thema, nunja, Substanzen ever (Velvet Underground exklusive), ziemlich deprimierend das Ganze also.

No Age

No Age

No Age - Everything In Between (Sub Pop)

Toptrend des Jahres im Feld "Rock" im weitesten Sinne, und auch mittlerweile zu einiger Meisterschaft ebenso wie Übersättigung gebracht: Sha-la-la-Schrammel-Pop-Beach-Punk eingedenk von Sixties-Girl-Groups und Phil-Spector-Produktionen mit Stand-Schlagzeug. Auch hier wehte sanft der Wind von Hall, Schall, Rauschen, Reverb und langsam hinten im Meer verblassender Sonne durch die nostalgiegetränkten Gedankensouvenirs von Wavves, der Dum Dum Girls, besonders gut, Frankie Rose & The Outs, und, kommerziell erfolgreich und gut, Best Coast. Wunderbares Raunen und Ächzen, Seufzen und Erstes-Mal-Verliebtsein, jetzt aber mögen andere Dinge passieren.

Die zwei ganz großen Würfe mit Gitarre des Jahres jedoch kamen von zwei Gruppen, die das Prinzip "Band" eher als Experimentierbaustelle denn als vorgefertigten Steckkasten verstehen: Zwei Gruppen, die beide schon das eine oder ander Mal mit dem Begriff "Ambient Punk" bedacht wurden, also Noise und psychedelische Klangforschung ebenso auf dem Plan haben wie das Schichten von Soundwänden, das Verwischen der Konturen und das Aufnehmen des Gesangs am Grunde des Swimming-Pools. No Age aus L.A. und Deerhunter aus Atlanta haben mit "Everything In Between" bzw. "Halcyon Digest" zwei phänomenale Alben aufgenommen, auf denen man nachhören kann, dass "Rock" gar nicht "Rockismus" heißen muss.

Hat man dieses Jahr "Indie" gesagt, durfte nicht der große, über allem schwebende Crossover durch die Lager fehlen, der "Teen Dream", das dritte Album des Duos Beach House, nun mal ist. Endlich findet hier die schwindelig machende Nachstellung von Dream Pop und Shoegaze an leiernder Orgel im Sound mehr als adäquate Entsprechung im Songwriting. "10 Mile Stereo"? "Zebra"? "Norway"? "Walk In The Park", Song des Jahres? 10 Mal stoisch Sich-Sehnen und mit Würde eine Träne Zerdrücken, während wir das Moped hinter den Dünen verschwinden sehen.

Beach House

Beach House

Beach House

20 Platten des Jahres:
20 Twin Shadow – Forget
19 Excepter – Presidence
18 Shed – The Traveller
17 Girls – Broken Dreams Club
16 Tame Impala – Innerspeaker
15 Lower Dens – Twin-Hand Movement
14 Pantha Du Prince - Black Noise
13 Four Tet – There Is Love In You
12 No Age – Everything In Between
11 Efdemin - Chicago
10 Toro Y Moi – Causers Of This
9 Darkstar - North
8 Caribou - Swim
7 Oneohtrix Point Never – Returnal
6 Forest Swords - Dagger Paths
5 Beach House – Teen Dream
4 John Roberts - Glass Eights
3 Deerhunter – Halcyon Digest
2 Kanye West – My Beautiful Dark Twisted Fantasy
1 Joanna Newsom – Have One On Me

In einem großartigen Musik-Jahr, in dem die großen Revolutionen nicht stattgefunden haben, und die betörendste Wundermusik eher aus Stillstand und Introspektive erwachsen ist, sind die zwei bemerkenswertesten Platten dann klareweise doch wieder diejenigen gewesen, die mit überhaupt gar nichts irgendetwas zu tun gehabt haben und aus jedem Rahmen fallen. Zwei Platten, möglicherweise entstanden aus relativer Vergessenheit oder Egalheit darüber, was denn heutzutage ein sogenannter "Markt" denn von einer Künstlerin verlangen könnte oder aber auch aus dem Verlangen heraus, der Welt noch einmal extradick mit Erdbeermarmelade aufs Brot schmieren zu müssen, dass man ja sowieso der König ist. Nächstes Jahr werden sie wieder kommen, die Gitarren-Boys in den engen Hosen, die extrem derbe Elektrofikke, der konfettibunte Disco-Alarm und der Baile-Funk im Boys-Noize-Remix, und sie werden auch wieder für ganz feine Musik gut sein.

Wie aber 2010 Joanna Newsom hingengangen ist und einfach mal so ein Dreifach-Album veröffentlicht hat, eine Platte voll Idee, ja, Poesie, Geschichte und Musik, den "Zauberberg" und den "Ulysses" - man muss da erstmal durch, aber: Hach, welch größere Freude wartet am Ende! - und Kanye West den Größenwahn, Pomp und Pathos in die steilste Form Pop gegossen hat, daran - so sagt die Kristallkugel - wird man sich noch in 15 Jahren - und nicht bloß vage und verschwommen - erinnern können. In 15 Jahren, wenn die CD, die wir in der Schuhschachtel gefunden haben und für die ein Abspielgerät aufzutreiben ziemlich lange dauern wird, genau so viel geilen Kult-Charakter mit sich trägt wie heute ein Mix-Tape auf richtig echter Kassette mit obskuren Punk-Bands drauf, mit "Boys Of Summer" von Don Henley und "Be My Baby" von den Ronettes und mit absichtlich schlecht zusammenkopiertem Cover.

Joanna Newsom

Joanna Newsom

Joanna Newsom