Erstellt am: 30. 12. 2010 - 15:55 Uhr
Rewind 2010: Das Kinojahr
Im Vorjahr habe ich an dieser Stelle noch der schundigen Videothek in meinem Haus nachgetrauert, die von einem Tag auf den anderen zugesperrt hat. Mittlerweile spaziere ich oft mit Wehmut an der leeren Auslage des Alphaville vorbei, der vielleicht prägendsten Wiener Institution in Sachen DVD-Verleih.
- Rewind 2010 - FM4 Jahresrückblick
Filmfanatiker wie meine Wenigkeit, die auf Originalfassungen bestehen, Untertitel dazu schätzen, auf Bonusfeatures Wert legen und all die Unmengen an interessanten Streifen nicht gleich kaufen, sondern einfach nur sehen wollen, die haben es nicht leicht dieser Tage. Noch gibt es im Netz oder Pay-TV kaum vollwertigen Ersatz für perfekt bestückte Videotheken, wo man in den Genuss sämtlicher erwähnter Vorzüge kommt. Zumindest hierzulande. Und auf legale Weise.
radio fm4 einoeder
Ich weiß, viele von euch da draußen belächeln das. Eure Festplatten sind zum Bersten gefüllt mit den allerneuesten Produktionen, und während ihr diesen Text überfliegt, ladet ihr im Hintergrund einen Film runter, über den ich hier in ein paar Monaten schreiben werde.
Ich halte hier jetzt sicher keine moralische Predigt, im Gegenteil, ich beneide euch öfter und rufe euch ohnehin schon morgen an, weil ich es bei manchen Serien nicht länger aushalte zu warten. Gleichzeitig lese ich immer wieder Interviews mit hochgeschätzten Regisseuren und schenke ihnen Glauben, wenn sie euretwegen das Sterben einer bestimmten Art von Kino heraufdämmern sehen.
Die gigantomanischen 3-D-Blockbuster werden überleben, so viel ist sicher. Aber all das, was zwischen Eventmovies und kleinen Wackelkamera-Experimenten aus dem Underground liegt, die Produktionen aus dem finanziellen Mittelfeld, die dennoch einen singulären Blickwinkel oder riskante Inhalte wagen, die wird irgendwann keiner mehr bezahlen.
Die Kinokrise wird weniger irgendwelche dämonisierten Marketingtypen aus Hollywood treffen als etliche filmische Visionäre dieser Welt. David Lynch preist mittlerweile wohl auch deswegen die Vorzüge günstiger Digitalkameras, unterstelle ich ihm jetzt, weil selbst ihm niemand mehr eine fette Produktion finanziert.
Polyfilm
Digital Wonderland
Aber keine Angst, das hier wird kein kulturpessimistisches Raunzen in Richtung der digitalen Zukunft oder auch Gegenwart. Denn wenn das Bits-and-Bytes-Kino in den letzten Jahren schon erwachsen geworden ist, dann hat es 2010 ein überwältigendes Potential entfaltet.
Christopher Nolan, einer dieser erwähnten Visionäre, durfte alles Geld Hollywoods für eine versponnene Neo-Noir-Story namens "Inception" verbraten und atemberaubende Visuals für die Ewigkeit kreieren. Die Pixar Studios, ohnehin längst verlässliche Garanten für ein Generationen vereinendes Animationskino mit Witz, Herz und Hirn, haben sich mit "Toy Story 3" selbst übertroffen.
Dann ist da das vielleicht innovativste Werk heuer, eine Billigproduktion, ohne Drehbuch improvisiert, mit einem HD-Camcorder gedreht und im Schlafzimmer geschnitten von einem jungen Effektspezialisten namens Gareth Edwards. Und dennoch hat das Sci-Fi-Drama "Monsters" keinen windschiefen YouTube-Touch, nichts Amateurhaftes im peinlich berührenden Sinn. Die gezielt eingesetzten CGI-Tricks könnten in dieser Qualität auch aus einem Spielberg-Epos stammen, bestimmte Momente vom frühen Werner Herzog, die Dialoge von Richard Linklater.
"Monsters" ist nämlich alles andere als selbstzweckhaftes Fanboykino, und der Titel hat durchaus etwas Irreführendes. Denn im Kern ist der elegische Film, der ein unfreiwilliges Paar zeigt, das ein von außerirdischen Wesen bedrohtes Mexiko durchwandert, eine altmodische Liebesgeschichte. Bloß auf den aktuellen visuellen und inhaltlichen Stand gebracht, inklusive Polit-Subtext und Slacker-Weltsicht. It's the same old song again, neu verpackt. Und Songs, so viel ist sicher, werden wir ewig singen.
UIP
Der Rock, der Roll und ein ordentlicher Jeffrey
Um Songs und Musik geht es im weitesten Sinn auch in den Komödien-Highlights des Jahres. Während das glückbringendste aller Genres 2010 generell etwas schwächelte und sich eher vor Konventionen verbeugte, sorgte ein Film für den lebensnotwendigen Irrwitz. Logischerweise wurde "Get Him To The Greek", die liebenswert durchgeknallte Story rund um verunglückten Sex, absurden Rock'n'Roll und fatale Joints namens Jeffrey von einem gewissen Judd Apatow produziert. Von wem denn auch sonst.
Ganz persönliche Filmlieblingsliste heuriger Kinostarts, weiter hinten beliebig gereiht:
Un prophète; R: Jaques Audiard
A Single Man, R: Tom Ford
Greenberg, R: Noah Birnbach
Get Him To The Greek, R: Nicholas Stoller
Somewhere, R: Sophia Coppola
Bad Ltd: Port Of New Orleans, R: Werner Herzog
Kick Ass, R: Mathew Vaughn
Carlos, R: Olivier Assayas
Monsters, R: Gareth Edwards
Inception, R: Christopher Nolan
Fantastic Mr. Fox, R: Wes Anderson
Vengeance, R: Johnnie To
Crazy Heart, R: Scott Cooper
Gainsbourg, R: Johan Sfar
The Social Network, R: David Fincher
Splice, R: Vincenzo Natali
The Other Guys, R: Adam McKay
The Road, R: John Hillcoat
The Kids Are All Right, R: Lisa Cholodenko
Shutter Island, R: Martin Scorsese
A Serious Man, R: Coen Brothers
Scott Pilgrim vs. The World, R: Edgar Wright
The Doors - When You're Strange, R: Tom DiCillo
The Ghostwriter, R: Roman Polanski
The Book of Eli, R: Hughes Brothers
The American, R: Anton Corbijn
Iron Man 2, R: Jon Faeuvrau
Greenzone, R: Paul Greengrass
The Lovely Bones, R: Peter Jackson
Vielleicht nicht ganz so hysterisch komisch wie seine britischen Meisterwerke mit Simon Pegg geriet das Hollywooddebüt des Londoner Regieshootingstars Edgar Wright. Dafür very charming. "Scott Pilgrim vs. The World" zehrt auch von einem knalligen Indierock-Soundtrack und bekommt den heurigen Putzigkeitspreis für die niedlichste Aufarbeitung sämtlicher erdenklicher Geek-Klischees, inklusive eines essentiellen Sarkasmus, der den Saccharin-Überschuss in Grenzen hält.
An der Oberfläche ist auch Wes Andersons fantastischer "Fantastic Mr. Fox" ein Film von einem Nerd für Nerds. Dabei kann wirklich jede(r) von der Geschichte rund um einen Fuchs-Papa, der Familie und Freunde für seine Egotrips aufs Spiel setzt, lernen – und sich dabei auch noch köstlich amüsieren. Bestes handgemachtes Animationsmovie seit den tschechischen Puppentrickfilmen der 1970er.
Während der echte Will Ferrell in "The Other Guys" an der Seite von Mark Wahlberg beinahe zu alter Form fand, versuchte "Die unabsichtliche Entführung der Elfriede Ott" ein Haucherl von der Ferrell'schen Blödelei ins heimische Kino zu schleusen. Und das mit Erfolg, auch an den Kassen.
Lionsgate
Meine Frau, unsere Kinder und ich haben Probleme
Im Grenzbereich zwischen Humor und heftiger Härte war für mich einer der lustigsten Filme 2010 angesiedelt, der mich aber nicht nur quietschvergnügt auf dem Kinosessel wippen ließ. Sondern auch dazwischen ordentlich schlucken. "Kick-Ass", diese Comicverfilmung to end all Comicverfilmungen, serviert kleine und größere Tabubrüche am laufenden Band und verpackt sie in ein knallbuntes Paket aus Nihilismus, Serienmord und Vigilantentum. Der gesellschaftlich unverantwortlichste Mainstreamfilm unserer Zeit hat dennoch unter seinen rauen Schale einen weichen Kern, behaupte ich mal.
"Big Daddy" Nicolas Cage und sein herziges Killertöchterchen "Hitgirl" aka Chloe Moretz sind dabei typisch für ein Jahr, in dem das Kino viele Konstellationen abseits der Hollywood-Traumfamilie favorisierte. In "The Road" ist es das enge Band zwischen einem Vater und seinem Sohn, das beide die Apokalypse durchstehen lässt.
Im eindringlichen Body-Horror-Schocker "Splice" bastelt sich ein junges Paar mittels Genexperimenten ein Mensch-Tier-Baby. Und in der wunderschön gefilmten Entfremdungsstudie "Somewhere", einem meiner Lieblingsfilme heuer, bricht Sofia Coppola die absolute Leere ihres Protagonisten mit einem familiären Wiedersehen. Das gemeinsame Lächeln von Stephen Dorff und Elle Fanning verbarg für mich mehr utopisches Potential als so manche revolutionäre Geste.
Apropos Utopie: Der lässigste, unaufdringlichste und unverkrampfteste Blick hinter die Kulissen einer "anderen" Lebensgemeinschaft kam von der US-Regisseurin Lisa Cholodenko. "The Kids Are All Right" erzählt von einer lesbischen Ehe, den ausnahmsweise im US-Indiekino einmal nicht traumatisierten Kindern und dem dazugehörigen Samenspender. Und das auf eine lockere Weise, wie man sie von Fernsehmeilensteinen wie "Six Feet Under" kennt.
Sony
Single, white, male
Eher weniger Spaß im Kreise der lieben Familie hat die Hauptfigur in der rabenschwarzen Coen-Brüder-Tragikomödie "A Serious Man". Die kafkaeske Erzählung um Paranoia, Betrug und nachlassende Leidenschaften weist schon im Titel auf eine Thematik hin, die viele wichtige Filmemacher in diesem Jahr zu beschäftigen schien.
Von Werner Herzogs entfesseltem "The Bad Lieutenant: Port of Call – New Orleans", mit dem Nicolas Cage auf manische Glanzzeiten verwies, über das einfühlsame Country-Abstiegsdrama "Crazy Heart", von dem ganz auf sich selbst ausgerichteten Terror-Popstar "Carlos" in Olivier Assayas' fünfstündiger Geschichtslektion bis hin zu gleich einer ganzen Clique lebensmüder Killer in Johnny Tos atemberaubendem Hongkong-Thriller "Vengeance": Solitäre Männer, defekte Kerle und brüchige Existenzen schwebten 2010 wie Geister durch großartige Filme.
Natürlich gehören maskuline Antihelden schon die ganze letzte Dekade zum Fixrepertoire auch des Mainstreamkinos. Aber heuer traten sie wirklich so geballt auf – ergänzt durch zentrale TV-Serien wie "Mad Men", "Dexter" oder "Californication" –, dass sämtliche glorifizierende Männermagazine nur wie lächerliche Parodien anmuten. Glaubt man nämlich dem Kino – und das hat immer recht –, dann schaut die Realität anders aus.
Man(n) kann dann beispielsweise aus folgenden Rollenmodellen wählen: Erfolgreicher Auftragsmörder mit schweren Bindungsproblemen ("The American"), legendäre Popikone mit Sex, Drugs'n'Chanson-Bonus, aber Leberzirrhose und kaputten Beziehungen ("Gainsbourg"), gefeierter Schriftsteller mit Verfolgungswahn und falschen Freunden ("The Ghostwriter"). Oder auch, bravourös von David Fincher in "The Social Network" in Szene gesetzt: Internet-Tycoon, der alles Geld der Welt hat, aber keine echten Freunde und dazugehörige Gefühle.
Tobis Film
Das Leben wird an die Menschen verschwendet
In den für mich drei besten Filmen des Jahres wird das männliche, vielleicht auch besser menschliche Scheitern zugespitzt, gleichzeitig werden die Protagonisten für ihren Lernwillen mit einer Art Katharsis beschenkt.
Die ganze Pracht und Tragik des Dandytums, den Horror des Alterns, die Schrecken der Einsamkeit bringt Tom Ford in seinem Debütfilm "A Single Man" derart auf den Punkt, dass es mich wochenlang verfolgte. Und gleichzeitig berauschte. Wer dieses Monument der Weisheit mit seinen bestechenden Off-Monologen, wie viele Kritiker heuer, als zu stylish abgetan hat, ist ein hoffnungsloser Fall.
A Single Man
Gänzlich unglamourös taumelt der von Ben Stiller verkörperte Ex-Musiker "Greenberg" durch den Alltag, abgetrennt von einer dumpfen Umwelt, nur mit der umwerfenden Greta Gerwig als Verbindungsglied zum Außen. Noah Baumbachs grandiose Hymne an das Verhuschtsein, an die Verschrobenheit, an das Stolpern kommt ohne die Stereotypen des zeitgenössischen Geektums aus, mit denen andere Indie-Filme protzen.
Dafür darf man sich danach zu Hause den besten Filmsatz seit langem einrahmen: Life is wasted on people.
Gegen die Widrigkeiten, mit denen sich die junge Hauptfigur in Jacques Audiards Meisterwerk "Un prophète" herumschlagen muss, sind Roger Greenbergs Ängste aber bürgerlicher Pipifax. Als Neuzugang in einem französischen Gefängnis wird er geprügelt, erpresst, zum Mord gezwungen. Wie sich dieser Malik aber inmitten von Blut, Gewalt und Testosteron-Terror eine bestimmte Sensibilität, ja sogar Zärtlichkeit bewahrt und dennoch kämpft, dafür gab es heuer kein filmisches Pendant.
Es gibt keine Lösungen, keine Schuld wird erlassen, sagt Audiard in seinem Thriller-Lehrstück. But we keep on fighting. In diesem Sinne: Einen wunderbaren guten Rutsch. Wir sehen uns, spätestens wenn sich Natalie Portman in einen dunklen Schwan verwandelt, im Kino wieder.
Sony