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Roland Gratzer

Links und Likes

30. 12. 2010 - 10:17

#Rewind #2010 #Web

Die Wiederauferstehung der Weblogs, die Untaten des Adrian Lamo und das Video des Jahres.

"The Internet is a series of tubes" hat ein unbekannter Politiker vor Jahren einmal gesagt und musste dafür viel Schelte einstecken. Aber so unrecht hatte er gar nicht. Um die Metapher zu verbildlichen, eignet sich am besten eine Terry Gilliam Illustration, in der Rohre unterschiedlicher Breite und Länge so lange empor schießen, bis eigentlich nichts mehr zu sehen. Deshalb ist ein Jahresrückblick über "Dinge im Internet" schwierig. Interessantes bleibt meistens gerade einmal ein paar Tage interessant, vieles bleibt unentdeckt und manches interessiert wirklich nur mich selber.

The internet is just a series of tubes

http://www.myce.com/

Der Politiker heißt übrigens Ted Stevens. Aber Achtung: Dieses Bild ist eine Fälschung!

Weil wir aber so wunderbare Dinge wie #followerpower haben, bin ich an ein paar Vertreter der österreichischen Twitteria herangetreten und hab sie um ihre Einschätzung gebeten, was denn jetzt so super spannend und unbedingt erwähnenswert war im letzten Jahr. Aus diesen Informationen habe ich mir dann genau das heraus gepickt, was mir gepasst hat und eine beliebige Liste erstellt, die weder Kontinuität noch Anspruch auf Vollständigkeit vorzuweisen hat. Aber so ist das halt im Internet.

Ich bedanke mich recht herzlich bei folgenden Input-Gebern:

Tom Schaffer
Ritchie Pettauer
Jana Herwig
Helge Fahrnberger
Veronika Mauerhofer
Gerald Bäck
Judith Denkmayr (die ist ja eigentlich gar keine Bloggerin, aber trotzdem leiwand)

Enttäuschung des Jahres: Diaspora

Die Hoffnung aller Social Networker, denen Facebook total gegen den Strich geht, hat sich als ziemlicher "Rohrkrepierer" erwiesen, wie Gerald Bäck richtig betont. Die Site ist langsamer als ein 56k-Modem, so unsicher wie US-amerikanisches Militärnetzwerk und funktioniert nicht auf Internet Explorer. Damit ist ein Google Wave ähnliches Desaster kaum mehr abzuwenden, denn wo, wenn nicht im Microsoft gepowerten Büro werden Freunde und Bekannte gestalkt?

Coup des Jahres: Diaspora

Vier New Yorker Studenten wollen ein werbefreies, dezentrales Social Network aufbauen und bitten um 10.000 Dollar Spenden. Kurze Zeit später haben sie 200.000 Dollar am Konto und konnten ihre lausige WG endlich gegen lausige Einzelwohnungen tauschen. Auch wenn das Projekt letztendlich wohl scheitern wird, das Bedürfnis nach einer Facebook-Alternative hat sich vor allem monetär bestätigt. Ein wohl nicht kleiner Teil des Geldes stammt übrigens von Mark Zuckerberg, dem alten Zyniker.

Protestkundgebung für Bradley Manning

http://www.flickr.com/photos/marisseay

Dieser Protest gilt der Person des Jahres.

Person des Jahres: Bradley Manning

Durch das ganze Mitleid für Julian Assange vergessen viele, dass der wahre Held der Wikileaks-Veröffentlichungen in einem Militärgefängnis sitzt und auf seine Verhandlung wartet. 52 Jahre werden es wohl werden, die der junge Soldat abbüßen wird müssen. Ob Manning auch die Cables weitergegeben hat, ist noch nicht ganz fix. Dass das definitiv von ihm übermittelte Video vom Hubschrauberangriff auf Zivilisten bei weitem nicht diese Aufmerksamkeit bekam, bleibt für immer unerklärlich. Alles wäre gut gegangen, hätte er nicht mir folgender Person gechattet:

Adrian Lamo

http://www.flickr.com/photos/49403380@N00/with/5250222396/

Adrian Lamo

Un-Person des Jahres: Adrian Lamo

Alleine dieser Name! Nachdem sich Manning per Chat mit Lamo ausgetauscht hat und ihm von den Unmengen an Material erzählte, das er auf einer mit Lady Gaga gelabelten CD rausgeschmuggelt hatte, informierte Lamo die Behörden. Resultat: Manning im Häfen, Lamo im online-gesellschaftlichen Abseits. Aber bei so einem Namen...

Hund am PC

http://www.forkparty.com/

Geheimer Gewinner der Kategorie "Animal Coaching des Jahres": Tiere am Computer

Leistungsabgeltungs-Tool des Jahres: Flattr

Gut, wirklich viel Geld lässt sich mit dem neuen Micropayment-Dienst nicht verdienen. Aber alles über 0 Euro ist für durchschnittliche BloggerInnen schon ein Gewinn. Funktionieren tut das ganze so: Ich lade mir pro Monat einen fixen Geldbetrag hoch und verteile den dann an Artikel, die mir gefallen. Qualität statt Quantität (Google Ads) und das Gefühl, was Gutes zu tun. "Es ist damit ein wichtiges Gegenmodell zum Paid-Content-Unsinn, der bei Durchsetzung das großartige Sharing-Internet wie wir es kennen schwer beschädigen würde", meint Tom Schaffer und hat damit völlig Recht.

Hashtags des Jahres: #ashtag und #tür

Ex aequo Entscheidung in dieser Kategorie.

1. #ashtag: Für Judith Denkmayer machen uns die Geschehnisse rund um den Eyjafjallajökull bewusst, wie nichtig, klein und staubig wir sind. Vor allem letzteres.

2. Jana Herwig hingegen macht sich für #tür stark. Ich zitiere wörtlich: "Während der heißen Phase der Stuttgart-21-Proteste in Deutschland hatten sich Protestierende im Südflügel des Bahnhofs verschanzt und streamten live die Versuche der Einsatzkräfte, eine ins Schloss gefallene Feuerschutztür, die Exekutive und Protestierende trennte, aufzubrechen. Fast eine Stunde hielt die #tür stand und war in dieser Zeit Hashtag-Königin auf Twitter. Ein kleines Drama im Social Web, bei dem sowohl Protestierende als auch PolizistInnen Sympathiepunkte sammelten: die einen, weil man mit ihnen fieberte, die anderen, weil sie - so Twittermeinung - nach dem Nachgegebn der Tür äußerst korrekt agierten."

Comeback des Jahres: Weblogs

Eigentlich sind Weblogs total 2005. Heuer aber feiert die Mutter aller Online-Medien ein fulminantes Comeback. (Kein Wunder, wenn man BloggerInnen fragt, mögen jetzt viele denken, stimmen tut es aber trotzdem). Zu verdanken ist dieses Revival lustigerweise den beinharten Konkurrenten: "Dank facebook und twitter bloggen jetzt viele, die gar nicht wissen, dass sie bloggen. Heute sind es längst nicht mehr nur Leitartikel, Printheadlines und in der Chefetage redigierte Leserbriefe, die Kaufentscheidungen und Wahlen entscheiden. Jeder bloggt", meint dazu Helge Fahrnberger. Für Veronika Mauerhofer hat sich eine fruchtbare Differenzierung breitgemacht: "Das tägliche Geplänkel wird auf den kurzweiligen sozialen Netzwerken abgehandelt, auf den Blogs bleibt mehr Platz für ernsthafte Auseinandersetzung mit einem Thema." Außerdem hätten halbherzige BloggerInnen dank Microblogging ihre eigenen halbfaden Blogs endlich ad acta gelegt. Für Ritchie Pettauer hat sich am World Blogging Forum in Wien eine alte Indianerweisheit bestätigt: "Der wahre Cyberspace ist im Kopf."

Zib 24 Bluebox Fail

kobuk.at

Die Wunden der Technik

Blog des Jahres: Kobuk

Medienwatchblogs sind nicht gerade eine Innovation. Meistens gehen sie aber nach kürzester Zeit gleich wieder ein oder werden schlicht und einfach langweilig. Nicht so bei Kobuk. Das AutorInnen-Team besteht großteils aus Studierenden einer Lehrveranstaltung am Publizistik-Institut in Wien, was vor allem eine erfrischende Regelmäßigkeit hervorbringt. Kobuk schaut den österreichischen Medien auf die schlampigen Finger, beweist hohes mathematisches Verständnis bei Prozentrechnungen ist vor allem eines: ganz schön unterhaltsam.

(Diese Entscheidung wäre übrigens auch ohne Anfrage an Helge Fahrnberger genau so gefallen, der maßgeblich an Kobuk beteiligt ist und sein eigenes Baby im Antwortmail nicht einmal erwähnt hat. Soviel Bescheidenheit verdient in Zeiten der raubkapitalistischen Aufmerksamkeitsökonomie besonderen Beifall im Rahmen eines Klammersatzes.)

Zentralisierungsmaßnahme des Jahres: Facebook Like-Button

Niemals war offizielles Kundtun von Unterstützung ohne sichtlich erkannbaren Mehraufwand einfacher als jetzt. Einmal geklickt, immer geliked.

Unsitte des Jahres: Online-Demos

Das Internet hat das Wachstum von Unterstützungserklärungen oder Protest-Unterschriftenlisten dankbar einfach gemacht. Das Beitreten einer Facebook-Gruppe, um zu einem bestimmten Zeitpunkt gegen oder für irgendetwas zu demonstrieren, ist aber wirklich sehr lächerlich.

nerd

unknown

Die wohl verdiente Zigarette nach einer erfolgreichen Online-Demo

Mysterium des Jahres: Foursquare

Gleich mehrmals fiel in den Antwortmails das Lokalisierungs-Tool foursquare. So ganz habe ich den Reiz daran nicht kapiert. Aber unerwähnt, das bleiben die anderen.

Posse des Jahres: Anonymous

Sie haben gegen Scientology gekämpft, dem Winter den Krieg erklärt und sonst allerlei Unfug getrieben. Mit der "Operation Payback" ist die wohl hauptsächlich männliche und weiße Schwarmgemeinschaft zwischen 14 und 29 im Mainstream angelangt. Die Angriffe auf die Websites von Visa, Mastercard und Paypal war zwar technisch wenig aufregend, in der Öffentlichkeit machte sich jedoch erstmals die Angst vor "denen da im Internet" breit. Den Prototyp für Protestbewegungen der Neuzeit will Jana Herwig bei Anonymous aber nicht erkennen: "Sie greifen alles an, was angegriffen werden kann". Vorgestern war übrigens ihr eigenes Mutterschiff 4chan dran. Das bringt uns gleich zum nächsten Punkt:

Meme des Jahres: Der Blumenkübel

Der an spannenden Internetphänomenen eher armselige deutsche Sprachraum hat im August 2010 eine zweitätige Blüte durchlebt. Die Geschichte vom umgeworfenen Blumenkistl in Neuenkirchen hat die eher unbekannte Münstersche Zeitung in punkto Aufmerksamkeit und Google Alert für kurze Zeit weit vor Spiegel und Bild katapultiert. Sehr empfehlenswert ist übrigens die dramatische Lesefassung des Artikels.

zerstörter Blumentopf

http://www.muensterschezeitung.de/

Niemals vergessen!

Viral Marketing des Jahres: Tipp-Ex

Einfach nett, einfach lustig, einfach einfallsreich. Viral Marketing ist in den meisten Fällen der zwanghafte Versuch, veraltete Marktvorstellungen auf modernes Publikum zu übertragen. Tipp-Ex macht vor, wie's besser geht. Viel Spaß!

Fake des Jahres: twitter.com/bpglobalpr

Judith Denkmayr: "Der gefakte BP Account auf Twitter hat grandios die Krisen-PR von BP persifliert. Und Twitter hat sich BP nicht gebeugt und den Account nicht wegen Copyright Issues gesperrt."

Hoffnung des Jahres: Open Data

Man stelle sich ein Land vor, in dem wir nicht nur aus brisanten Telefonprotokollen wichtige Informationen über die Führungsriege unseres Landes erhalten, sondern Transparenz nicht nur für ominöse "Sozialschmarotzer" gilt. Einiges gibt es ja schon, etwa die hübsche Visualisierung des Budgets oder eine Datensammlung für funktionstüchtigen Lifte und Rolltreppen in Wien. Der Politik ist das natürlich herzlich wurscht.

Christopher aus Winnie the Pooh

http://www.dangerousminds.net/

Sollte auch nicht unerwähnt bleiben: Psychische Erkrankungen bei Charaktären aus Winnie the Pooh. Mehr davon gibt es hier.

Video des Jahres: youtube.com/...

Ring frei für die link-Orgie! Diese Kategorie ist mir am schwersten gefallen. Ist es der russische DIY-Bungee-Jump, die nicht gerade windfesten Enten, das beste aller Facebook-Movie-Trailer-Remakes, das Baby, das tatsächlich einen Verwendungszweck für Reggae unter Beweis stellt, die netteste Football-Verarsche überhaupt, das steilste Musikvideo mit Web 2.0 Content jenseits der Leitha, die Leiden der nicht mehr so jungen Waschmaschine, der neue Iron Sky Teaser, oder diese großartige Zorro-Katze? Nein, heuer kann es nur einen geben. Den Merengue Dog:

Und sonst, liebes Forum?