Erstellt am: 30. 12. 2010 - 11:37 Uhr
Die Geister vergangener Tage
- Rewind 2010 - FM4 Jahresrückblick
Auch wenn weder die Erwähnung seines Namens noch ein Foto, das ihn zeigt, bei allzu vielen Menschen große Erhellungsmomente hervorrufen mögen, war Daniel Lopatin ein Mann des Musikjahres 2010. Ein schemenhaftes Symbol für das musikalischen Schaffen der vergangenen zwölf Monate; seine Arbeiten symptomatisch für das, was in diesem Jahr an Interessantem und im Wortsinne Merkwürdigem - auch an so genannten Trends - ans Ohr gedrungen ist.
Oneohtrix Point Never
Der aus Boston stammende, mittlerweile in Brooklyn angekommene Synthesizer-Wizard Lopatin hat in diesem Jahr unter unterschiedlichen Projektnamen zwei Platten veröffenlicht - eine hervorragend, eine sehr gut - die zwei (mindestens) Stimmungen innerhalb seines Musikverständnisses ausleuchten. Möglicherweise gar nicht so weit voneinander entfernt, vielmehr sich ergänzend. "Returnal", das großartige Album von Lopatins bekanntester Unternehmung, Oneohtrix Point Never, hat sich mittlerweile zu Recht, wenn auch etwas überraschend, in diverse, nicht gerade wenige Jahresend-Bestenlisten geschoben, verschiedenste Blogs, die Sumpf-Jahres-Charts, Platz 2 im englischen WIRE, immerhin Platz 20 auf Pitchfork - einer Seite, auf der bei aller Experimtierfreudigkeit und Liebe zur offenen Klangforschung, ja dann doch meist noch eine gewisse Verwurzelung im Pop bestehen bleibt und ein derart frei fließendes Elektronik-Album selten in den oberen Rängen landet. Das beim Wiener Label Editions Mego erschienene "Returnal" ist ein aschfarbener Melancholie-Drift durch die Sphären. Auf- und abschwellende Ambientflächen im Andenken an den elektronischen Arm von Kraut im Sinne von Tangerine Dream formen sich hier zu undeutlichen Melodien, die aus ihrer Zerbrechlichkeit die Strahlkraft gewinnen. Vage werden im Hintergrund längst erloschene Stimmen und ein sanftes Pulsieren hörbar.
Musik-Jahresrückblick, Teil 2: Ein kurzes Flüstern
Dieser vergleichsweise "schweren" - weil kaum mit Haltegriffen versehenen - Platte steht die Debüt-EP des von Lopatin gemeinsam mit seinem Jugendfreund Joel Ford betriebenen Duos Games gegenüber: "That We Can Play" ist eine abgebremste Party-Platte, die ihre Freuden aus angetrashter 80er-Jahre-Atari-Nostalgie zieht, aus der Rekontextualisierung von Soft-Rock in Spuren-Elemtenten, vor allem aber aus der fett bouncende Energie von verlangsamten R'nB- und Hip-Hop-Loops. Bestenfalls möglichst schäbig vom Uralt-Tape gezogen.
Trendforschung
Das Wort Hypnagogie bezeichnet einen leicht tranceartigen Bewusstseinszustand an der Kippe zwischen Wachen und Schlaf, im musikalischen Zusammenhang wird seit einem bereits im August 2009 im WIRE erschienen Artikel unter dem Schlagwort "Hynagogic Pop" eine Musik verhandelt, die sich aus den viel zitierten schwachen Erinnerungen an die Jugend speist, Polaroid-Ästhetik, vergilbte Urlaubs-Romantik, Lo-Fi-Beats, benebelte Aufarbeitung von Charts-Pop aus Zeiten, in denen man fast gerade erst geboren war.
Baths
Nun muss man verstehen, dass freilich der Begriff "Hypnagogic Pop" selbst ein nebulöser ist. Wie das Genre-Schubladen - man muss es vielleicht noch ein mal dazu sagen - meist so an sich haben. Schon zu Tode theoretisiert, hat sich 2010 eine Ästhetik des Halbschlafs, des Verwaschenen und bewusst Unradikalen - aber auch des Schwermütigen, Düsteren - als eine vorherrschende Tendenz des Jahres endlich auch in umwerfender Musik niedergeschlagen. Wo waren 2010 die weltmusikalischen Geschmacks-Explosionen und die quietschbunten Genre-Verquickungen, die die eigenen Referenzen grell ins Schaufenster legen? Nu Rave, Ed Banger, supersweeter Elektronik-Pop ein bisschen müde geworden, Dance-Punk (remember?) mit einem letzten, sehr guten, altersmüden Album des LCD Soundsystem vorerst zu Grabe getragen?
Was 2009 unter der Schirmherrschaft von Hypnagogic Pop mit gerade mal einer Handvoll Bands als Chillwave quasi als rein theoretisches Genre über das Sprechen über Genres ausgerufen worden ist, hallt 2010 fast ausschließlich noch als "Thema" nach, als Trigger für schlaumeierhaftes Augenzwinkern.
Toro Y Moi
Einige sehr gute Alben hat die Second-Hand-Sound-Bastelei, die Nostalgie-Aufarbeitung an verlassenen Stränden unter einer matten Sonne dann glücklicherweise doch zu Tage gefördert: "Causers Of This" von Chazz Bundicks' Ein-Mann-Unternehmen Toro Y Moi, quasi bislang das inoffizielle wie auch unaufdringliche Opus Magnum der Chillwave, oder "Cerulean" von Baths - dem Projekt des erst 21-jährigen Beat-Bastlers Will Wiesenfeld aus Los Angeles, der sein Sounddesign stärker Richung zukunftsweisenden HipHop-Gerumpels eines Flying Lotus streckt. Aus den ebenfalls wunderbaren Alben von Twin Shadow und Wild Nothing, einmal eher auf New Wave, einmal eher auf Twee Pop bezugnehmend, tropfen Phantomschmerz und bombastische Erschöpfung.
Salem
Was mit der Apostrophierung des Begriffs Chillwave seinen Anfang genommen hat, findet in der Handhabung des Wortes - jetzt, kommt's - Witch House, der finsteren Schwester, die konsequente Weiterführung. Witch House, das Superthema des Jahres, von Anfang an als Konstrukt gebrandmarkt, als hohle Hipster-Geste geplant und sogleich entlarvt, schwammiger Begriff, zähflüssige Soße, die dieses Jahr auf alle Zeiten hinaus den Umgang mit heißen Trends und der Proklamierung von Micro-Genres verändern sollte. Witch House war von Anfang an gegessen, "Witch House, hihi," konnte man kenntnisreichen den Speichelreiz feixen.
So gab es da also "Witch House" als albtraumhafte Wolke, als leeres Wort, die sich durch minimale stilistische Abweichungen kennzeichnenden Splittergruppen "Drag" oder auch "Rape Gaze" geheißen, als Begriff schon lange Zeit Futter für Gesprächsvortäuschungen, ohne dass jetzt wirklich etwas über die Musik, geschweige denn Bands gewusst worden wäre. Nun gut, ja, sicher, kryptische Symbolik, Dreiecke, Kreise, Ringe, Pyramiden und: Salem. Salem, das Poster-Trio aus Michigan, Aushänge-Fuck-Ups von Witch House. Komplett kaputtes Leben und doofer Drogen-Chic inklusive.
Balam Acab
Unter all den Überlegungen, was denn Witch House denn möglicherweise für ein affiger Name sein könnte, hätte man dieses Jahr dennoch nicht verabsäumen sollen, der Musik auch tatsächlich zuzuhören. Was da mitunter im Zusammenspiel von ins Ewige zerdehnten HipHop-Beats, dem Erbe von DJ Screw, syruphaft sich ziehenden Soundscapes, Dream Pop in Slow Motion, Todes-Dub und Versatzstücken von Dubstep, Dark Ambient oder bloß auch Goth Pop an spukhaft zitternder Anti-Musik aus den Laboren gebrodelt ist, gehört zum aufrührendsten, was es dieses Jahr mit Haut und Hirn zu erfahren galt. Musik von einer diffusen Körperlichkeit, Musik in der dunkle Ahnungen mitschwingen.
oOOoO
Wie gern hätte man es schon immer besser gewusst, wenn "King Night", das Debütalbum von Salem, als bloßer Style und Behauptung in sich zusammengesackt wäre. Leider, möchte man fast schon sagen, haben diese mit ihrer eigenen Fertigkeit ständig überkokettierenden Poser eine extrem detailverliebte, klanglich ausgefuchste und sehr gute Platte aufgenommen. Die wohl zukunftsträchtigsten Entwürfe der Genre-Blase kommen jedoch aus dem Hauptquartier des Witch House, Tri Angle Records - die, wie es sich gehört, freilich nichts vom dröge aufgezwungenen Joch der Schubladisierung wissen wollen. Die Acts Balam Acab und oOoOO haben mit ihren jeweiligen Debüt-EPs aus nicht näher zu definierenden Soundquellen zwei sinistre Stücke Pop-Musik mit unterschwelligem R'n'B-Verständnis zusammengeschnitten. Oder auch die aus dem Zusammentreffen von Zola Jesus und L.A. Vampires entstandene, bei Not Not Fun erschienene und schlicht "L.A. Vampires meets Zola Jesus" betitelte Platte ist eine erschütternde Opfergabe an den Pforten zur Hölle: Schamanenhaft verspulte Hexengesänge und ein tiefster Dub, der im Sumpf von Hustensaft stecken bleibt. Wie bitte? Die L.A. Vampires-Platte läuft "offiziell" gar nicht unter "Witch House"?
LA Vampires
Morgen, 31.12: Ein Musik-Rückblick, Teil 2 mit u.a.: Post-Dubstep, Gitarre, Indie? Plus: 20 Platten des Jahres 2010.