Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "I predict... na was schon?"

Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

28. 12. 2010 - 14:04

I predict... na was schon?

In Großbritannien wurde heuer angeblich die Politik neu erfunden. Geendet hat das dann in einem thatcheristischen Sparpaket und ein paar guten alten Straßenschlachten.

Normalerweise missbrauche ich die Rewind-Kolumnen hier ja immer für meine diversen apokalyptischen Voraussagen. Weil das Rückschauen allein ja nicht die spannendste aller Betätigungen ist.

Heuer ist das ein bisschen anders, weil meine britische Wahlheimat sich im vergangenen Jahr einen vollen, kondensierten manisch-depressiven Zyklus gegönnt hat. KeineR kann behaupten, es hätte sich nichts getan.

Kann sich überhaupt noch wer an Gordon Brown erinnern? Es war im April, da hat er zum letztmöglichen Zeitpunkt Unterhauswahlen ausgerufen.

Drei Wochen später hatten die Briten im Liberaldemokraten Nick Clegg ihren Hoffnungsträger für eine Alternative zum alten Zweiparteiensystem gefunden.

Fake-Cameron-Plakat: Government of the rich, by the rich, for the rich

mydavidcameron.com

Mit diesem Fake-Wahlplakat der satirischen Website mydavidcameron.com hab ich damals meinen Artikel zur Unterhauswahl illustriert.

Und als der ihnen nach der Bildung einer Koalition zwischen seinen LibDems und den Konservativen eine "neue Art von Politik" versprach, war euer kratzbürstiger Korrespondent hier schon wieder einmal skeptisch aus Prinzip.

Dabei hätte ich nie gedacht, dass Clegg schon bloße vier Monate später bei der Liberalisierung der Studiengebühren bis zu einem Höchstwert von 9000 Pfund pro Jahr bei gleichzeitigem Zusammenstreichen von Uni-Budgets und Abschaffung der Beihilfe für Kinder aus finanzschwachen Haushalten (Education Maintenance Allowance) seinen größtanzunehmenden Umfaller liefern und die ganze, neu gewonnene, studentische WählerInnenschaft vor den Kopf stoßen würde.

Fake-Plakat Nick Clegg: I've never voted Tory before, but now I'm going to do it almost every day

mydavidcameron.com

Mittlerweile...

Gegen Ende Oktober hatte die britische Regierung bereits einen radikalen Sparplan zur Kürzung von Sozialausgaben und Schrumpfung des öffentlichen Sektors angekündigt, der die britischen Medien zu solch sadomasochistischen Orgien inspirierte, dass man meinen hätte können, Mark Ronson würde als nächstes gleich ein Duett mit Maggie Thatcher produzieren.

Aber wie schon Anfang November klar werden sollte, gehören zu jedem ordentlichen Revival der britischen Achtziger auch die passenden Straßenschlachten, die schon innerhalb weniger Wochen härter und härter werden sollten.

Fake-Wahlplakat: I've never voted Tory before, and I'll never vote Liberal Democrat again

mydavidcameron.com

...sind denen schon ein paar neue Motive eingefallen.

Gut, ein paar Studierende auf der Straße und Farbkleckse auf des Thronfolgers Bentley machen noch keinen Miner's Strike und auch noch keine Poll Tax Riots.

Wir wollen nicht vergessen, dass das Jahr 2010 uns auch große Innovationen wie das neue ORF-Gesetz gebracht hat.
In seiner Weisheit hat der Gesetzgeber es uns vergönnt, Kommentare zu sendungsbegleitenden Beiträgen wie diesem hier zuzulassen. Recht herzlichen Dank, gütiger Gesetzgeber.

Aber große Schocks wie die Mehrwertsteuererhöhung von 17,5 auf 20 Prozent, die Kürzung der Mietbeihilfe oder die Beschneidung der Gemeindebudgets stehen erst bevor. Die chauvinistische Schadenfreude über anderer Länder Schuldenkrisen wird davon kaum ablenken können, falls Großbritanniens neo-thatcheristisches Experiment nicht den vom konservativen Finanzministerium erträumten Boom des privaten Sektors bringen sollte.

Was wiederum jenen allmächtigen Credit Rating Agencies, denen die sparwütige Regierung alles recht machen will, erst recht nicht gefallen könnte. Die Arbeitslosenzahlen sind jedenfalls wieder im Steigen.

Das letzte große öffentliche Diskussionsthema, das ich mitkriegte, bevor ich England Richtung Wien verlassen hab, war die Frage, ob die englische Polizei bei Demos Wasserwerfer einsetzen sollte.

Vielleicht geht sich hier also angesichts dessen, was heuer auf den Straßen von London, Athen, Paris oder Dublin passiert ist, doch noch die übliche düstere Prophezeiung aus.

Als die Kaiser Chiefs es vor ein paar Jahren sangen, ging es bloß noch um unschuldige Wochenendsbesäufnisse in britischen Stadtzentren. Jetzt hängt der Satz schwerer in der Luft denn je:

I predict a riot.
Oder mehrere.

Und infolgedessen eine Spaltung des liberaldemokratischen Lagers, die die konservativ-liberale Koalition zwar nicht stürzen, aber empfindlich schwächen wird, was seinerseits den Druck von der Straße noch erhöhen sollte.

Und das ergibt, falls sich aus den Ereignissen vor drei Wochen in der Regent Street irgendwas schließen lässt, womöglich eine turbulenter als vorgesehene Hochzeitsfeier.