Erstellt am: 26. 12. 2010 - 23:00 Uhr
Die Sumpf-Jahrescharts
2010. Die Musik macht, was sie will, und wir auch. Will heißen: Als wir uns in neckischer Vorfreude unsere Jahreslisten der besten Alben nach dem Tod des Albums zuschickten, um auf Basis dieser die alljährliche Symbiose der Geschmacksvorlieben zu feiern, stellten wir Ungewöhnliches fest. Dieses Jahr geht es sich irgendwie nicht wirklich aus mit uns und unserer Anbetung der streng hierarchischen Logik der Hitparade. Zu viele hochrangige Einzelnennungen und zu wenig Übereinstimmungen, um eine gemeinsame Liste zu rechtfertigen. Was also tun?
Die Lösung für dieses Jahr heißt ausnahmsweise: zwei Listen. Und zwar zwei Top 15 Listen mit ein paar Notizen zu den Top 10. Und als Bonustrack gibt's auch noch die besten 15 Dancefloor-Tracks unserer Neo-Sumpfistin Katharina Seidler. Seit heuer sind wir ja drei! Alsdann - wer will anfangen? ... Thomas? ... OK:
Thomas Edlingers halbe Wahrheit musikalischer Versumpfung
Naf: 4D / Flickr / Creative Commons / egger
- 15. Kristof Schreif - "Bourgeois with a Guitar"
- 14. Caribou - "Swim"
- 13. Sin Ropas - "Holy Broken"
- 12. James Blake - "CMYK bzw. Klavierwerke" (EPs)
- 11. Four Tet - "There is Love in You"
- 10. Sun Araw - "On Patrol"
Cameron Stallones aus Los Angeles betreibt das Einmann-Unternehmen Sun Araw, das sich insofern auf den erleuchteten Jazzgott Sun Ra bezieht, als es Musik ebenfalls vor allem als Möglichkeit von Freiheit deutet. Space ist his Place, nur dass dieser Raum bei Sun Araw ein innerer ist. Sun Araw macht Pychotrancespacefolk oder so. Die Wah-Wah-Gitarre zittert und loopt sich in Richtung Ewigkeit, aus dem trippigen Mantra schält sich immer wieder eine wattierte Stimme, und dazu dröhnt manchmal ein sauber durchgeschüttelter Synthie und beschwört die Wüstenschlange in uns. Musik für psychedelisches Sitzswingen.
- 9. Gonjasufi - "A Sufi And A Killer"
Eine im besten Sinn verkrachte Existenz: Gonjasufi, ein Rufer in der Wüste der Bedroom-Producer, der sogar dem dieser Tage ja leider verstorbenen Captain Beefheart in seiner spinnerten Entrückheit wohl ganz gut als brav extremistischer Ziehsohn gefallen hätte. Wenn, ja wenn Gonjasufi in seinen Drahtseilakten zwischen punkigen Gitarrenläufen, schepprigen Spieldosensounds und Easy-Listening-Anleihen nicht auch noch so eingängige und wunderbar beseelte Trümmersongs hervorzaubern würde. Tausend Splitter tief!
- 8. Anika - "Anika" (siehe Fritz weiter unten)
- 7. Elektro Guzzi - "Elektro Guzzi"
Ja, wie jetzt? Rock ist der neue Techno? In Deutschland werkten Brandt Brauer Frick an ihrer Bio-Version von House. In Wien stellte die ... äh, "Postrockformation" Elektro Guzzi unter den strengen Fingern des Groove-Zuchtmeisters Patrick Pulsinger im Studio nach, was "richtige" Instrumente können, wenn man sie nur ordentlich kicken lässt. "Recorded live without overdubs" steht am Cover des Elektro Guzzi Albums. "Ja natürlich!" jetzt auch im Musikgeschäft? Dem Vernehmen nach blasen Elektro Guzzi, die in ihren puristischen, scharfkantigen Neo-Geo-Sounds manchmal an Radian erinnern, bei Konzerten trotz dieser Selbstbescheidung verlässlich die Hütte um. Ist das nun Rock 3.0 oder Techno -1.0 oder beides?
- 6. James - "The Day After The Night Before"
Angenommen, die 80er Jahre waren gar nicht so böse. Dann sind seit 2010 zu einem guten Teil James dafür verantwortlich. Zuerst waren sie Manchester, dann Madchester, in den besten Rave-Jahrgängen machten sie ein schönes Album mit Brian Eno, dann waren sie tot, und jetzt erstrahlen sie wieder in hymnischem Glanze. James veröffentlichten dieses Jahr die zwei Minialben The Night Before und The Day After bzw. die Kombination der beiden mit dem sinnigen Titel "The Day After The Night Before". Dated, aber zeitlos!
- 5. Actress - "Splazsh"
Immer wenn man denkt, in der elektronischen Musik geht's schon wieder recht schablonenhaft zu, kommt ein junger Brite und wirbelt alles durcheinander. Dieses Jahr könnte man da zum Beispiel Darren Cunningham alias Actress nennen, der in seinem zweiten Album "Splazsh" ein Füllhorn an Ideen über seine knackigen Tracks mit den ungeölten Anschieber-Drums ausschüttet. Teile davon könnten auf den Namen Post-Dubstep hören, er selbst spricht gern recht schlaumeierisch von "R&B concréte" , und wir dürfen mal wieder auf das steinalte Kowdo Eshun-Wort von der "Sonic Fiction" verweisen.
- 4. Diverse - "Shangaan Electro - New Wave Dance Music From South Africa"
Die Horrorverkulter aus der Witchhouse-Fraktion pitchen alles runter, während am Cover dieser Kompilation aus dem Nozinja-Studio in Johannesburg die Clownmasken regieren und die Musik sich zu hypernervösem Irrwitz hochpitcht. Tja, fremd an der Fremde ist halt vor allem der Fremde selbst. Auf dieser Zusammenschau stellt sich eine selbstbewusste afrikanische Moderne vor, die, wie der Name schon sagt, den regionalen Musikstil Shangaan elektronisch in die Gegenwart hochfährt und dabei keine Gefangenen macht. Zappeltechno mit Herz und karibisch-afrikanisch-europäischen Verwandten aus Südafrika.
- 3. Oneohtrix Point Never - "Returnal"
Das daueraktive Brooklyner Tastenmonster Daniel Lopatin hat nach seinem gewichtigen Doppelalbum "Rifts" schon wieder zugeschlagen und nun auf dem Wiener Label Editions Mego das Album "Returnal" veröffentlicht. Auch darauf findet sich, nach einem für Lopatins Verhältnisse ambient-noisig dräuenden Auftakt, jene teils zerklüfteten, teils käsigen, teils eisigen und dann wieder warm vor sich hinperlenden Synthiekompositionen, für die Oneohtrix Point Never mittlerweile bekannt ist. Ein Gruß aus der Gegenwart an die Kosmische Musik von gestern. So versponnen und versonnen, dass es auch mindestens für eine halbe Zukunft reicht.
- 2. Kanye West - "My Beautiful Dark Twisted Fantasy"
Ein Album, welches einem auch mit guten Gründen schwer auf die Nerven gehen kann. Alles muss bigger than Rapper-Life sein. Herrschafts-Hiphop, Bombast, Wichtigtuerei, große Schmiere. Und dennoch sind einige der Stücke auf diesem Album so zwingend, dass man daran nicht vorbeikommt. Auch wenn manche Kollaborationen eher als Namedropping und Akustik-Deko funktionieren: Was West zum Beispiel mit dem eher intimitätsaffinen Waldschratt-Folkie Bon Iver in die Gänge bringt, ist schlicht großartig.
- 1. Schmesiér - "Schmesiér"
Manchmal meint es die Welt gut mit einem und drückt einem unverhofft ein Album in die Hand wie dieses: "Schmesiér", das namenlose Debüt des gleichnamigen Musikers. Verantwortlich dafür ist Florian Schmeiser, der bislang vor allem in China als Musiker auftrat. Schmeiser alias Schmesiér deutet auf dem nur im Eigenverlag über das Netz (schmesier.com) erhältlichen Album nicht nur den Wolfgang-Ambros-Klassiker "Wintersun" zu einem auf Englisch gesungenen Rührstück zwischen Kammermusik, Elektronik und angetäuschtem Jazz, sondern kriecht auch bei den restlichen Stücken wie "Black Hole Sun" von Soundgarden oder "Every Breath You Take" von Police förmlich ins Mikro hinein. Ähnlich wie bei dem sich ebenfalls jenseits von Indie- und Mainstreamkriterien organisierenden Album "Bourgeois with a Guitar" von Kristof Schreuf findet sich auch hier nur ein einziges "Original"-Stück, doch dafür enthalten die "Cover"-Versionen mehr an störrischer Intimität zwischen Retroromantik, Avantgarde-Kürzeln und Pop-Dekonstruktion als deine nächste und übernächste Amazon-Kaufempfehlung zusammen. Bingo!
Fritz Ostermayers halbe Wahrheit musikalischer Versumpfung
Naf: 4D / Flickr / Creative Commons / egger
- 15. Deerhunter - "Halcyon Digest"
- 14. Yakuza - "Of Seismic Consequence"
- 13. Lorn - "Nothing Else"
- 12. Nice Nice - "Extra Wow"
- 11. Julianna Barwick - "Florine"
- 10. Xiu Xiu - "Dear God I Hate Myself"
Treib deine Not so weit ins Artifizielle, bis sie als Kunst von dir abfällt - eigentlich eine banal schöne Methode, um sich die diversen Seelenklempner vom Leib zu halten. Drum kann eine Band wie Xiu Xiu trotz aller Hysterisiertheit der Mittel nie wirklich Glam werden: weil zu viel Henry-Rollins-Therapiearbeit dahintersteckt, also mit vorgeblich Authentischem gehandelt wird und nicht mit Zitaten von Zitaten von Zitaten. Ihr dabei dennoch höchst artifizielles Schaffen speist sich klugerweise aus dem E-Kunst-Kontext - Stichwort: Francis Bacon, Rudolf Schwarzkogler - und nicht aus der U-Künstlichkeit von Pop-Art à la Warhol oder Jeff Koons. Kurz: Dear God, I Hate Myself ist trotz erleichterter Eingangshürden ein weiteres typisches und also ganz großartiges Xiu-Xiu-Album: materialistisch UND spirituell, analytisch UND romantisch, Kunst UND Pop, kalt UND warm.
- 9. Parkwächter Harlekin - "Liebe"
Ein Lyrik- und Textbergwerk aus Baden bei Wien ist der Parkwächter meines Vertrauens: Vom Rap kommend erobert sich dieser Bursche Terrains, die das Genre HipHop in gar viele Richtungen ausdehnen. Als wäre der ganz junge Max Gold Mitglied der frühen Anticon-Posse. Aber auch dieser Vergleich hinkt: Parkwächter Harlekin ist ein Original und sein Album "Liebe" ein mäanderndes Meisterwerk.
- 8. Matthew Dear - "Black City"
Der New Yorker Producer, der unter verschiedenen Pseudonymen schon Tollstes für den Dancefloor produziert hat, wendet sich dem Song zu und wagt sich ans Singen. Weil er aber nicht mit der begnadetsten Stimme gesegnet ist, macht er aus der Not eine Tugend und vocodert und verdoppelt er sich über die Runden, dass es für jeden Liebhaber des mittleren Brian Eno, Phase After The Heat, nur so eine Freude ist. Seine kühlen und klaren Technosounds behält Matthew Dear dabei bei, was eine sehr schöne Dialektik von Emotion und Sterilität erzeugt, wie wir sie seit frühen Kraftwerktagen kennen und schätzen. Überhaupt scheint mir "Black City" der feuchte Traum eines jeden DJ Hell zu sein. Und was für DJ Hell gut, das soll mir auch nur recht sein.
- 7. Diverse - "Shangaan Electro - New Wave Dance Music From South Africa" (siehe Thomas weiter oben)
- 6. Tyler, The Creator - "Bastard"
Dieser Typ ist gerade mal 20, ist Teil einer 10-köpfigen Posse namens Odd Future und zeigt allen Mercedes- und Titten-Rappern, wo der Bartl die Kaltschnäuzigkeit und den schwarzen Humor holt. Nur vergleichbar mit dem ganz frühen Wu Tang Clan - aber noch nihilistischer und drum vor bösem Zynismus nur so triefend: Und trotzdem gehen sich auch berührende Momente innigsten Zweifels aus, diese Kids sind definitiv all right!
- 5. Anika - "Anika"
Die Wiederkehr der direkten Aktion im Pop: Die direkte Aktion des nicht lange Herumscheißens zugunsten einer räudigen Unmittelbarkeit lässt Anikas selbstbetiteltes Album voll aus dem vom Editier-Wahn besessenen Zeitgeist fallen. Klares Vorbild: der dubbige On-U-Sound von Adrian Sherwood aus dem Bristol der frühen 80er. Anikas Songs, bis jetzt nur Coverversionen, klingen tatsächlich nach einer vollkommen abgespeckten Sherwood-Produktion, in der dem Hall eines Sounds dieselbe Aufmerksamkeit gewidmet wird wie dem Ursprungssignal. So was macht Räume auf, in denen dann die verlorene, nicoeske Stimme von Anika herumschwirrt wie Schattenspiele in einer Geisterbahn. Wegweisendes Album für nackte Ästhetiken des kommenden Jahres.
- 4. Sightings - "City Of Straw"
Ziemlich gnadenlos und konsequent setzen Sightings aus Brooklyn ihre vor ein paar Jahren begonnene Fusion aus harschem Industrial und nicht minder harschem Punk-Noise fort, die vor Jahrzehnten von Bands wie Throbbing Gristle als essentialistische Raserei aus der Taufe gehoben und seither von finsteren Schmerzensmännern immer wieder gern aufgegriffen wurde. Stör-Elektronik und nervenzerrende Gitarren reichen sich da im Dienste eines Durchputzens aller Sinne inklusive Magendarm-Trakt die schmutzigen Hände und erzeugen vor allem eins: eine irrwitzige Intensität, die im heutigen Rock selten geworden ist. Und daher kostbar. Die Stadt aus Stroh - sie brennt zuerst lichterloh und am Ende glost der Haufen noch immer heißer als jeder gerade angesagte heiße Scheiß.
- 3. PVT - "Church With No Magic"
Vormals Pivot, nunmehr vokallos PVT. Dieses Trio aus Australien hat mit seinem Zweitling alles richtig gemacht. Richard Pike singt wie ein narrischer Prediger, also eh in der schönen australischen Existentialisten-Tradition, nur eben nicht auf der Basis des Blues, sondern über eine herrlich technoide Trümmerästhetik. Das Beste an PVT aber ist und bleibt das Schlagzeug: So originell und scheinbar einfach treibt es die Songs vor sich her, dass ich gar an den großen Charles Hayward von This Heat denken muss. Und manchmal lässt Pike den Alan Vega raushängen, womit man bei einem Suicide-Jünger wie mir auch nur offene Türen einrennt. Die Melodien selbst sind Splitter von alten Pathosformeln, deren ursprüngliche Schönheit immer wieder rabiat zerstört wird, die so aber in eine neue, modernere Schönheit übergeführt werden. Wenn dann gar noch eiernde Geigensynths an die göttlichen OMD erinnern, dann haben PVT ihr Plansoll an meisterlicher Referenzkultur mehr als erfüllt.
- 2. Caribou Vibration Ensemble - "Caribou Vibration Ensemble"
Als Band schon verdammt gut, aber als auf ein 15-köpfiges Ensemble aufgeblasene Bigband schier unschlagbar. Warum bis jetzt noch niemand auf die naheliegende Idee kam, die Genialitäten von Krautrock, Beach-Boys und Free Jazz zu einem Dreierziegel zusammenzuspannen, das bleibt ein Rätsel, dass aber Mastermind Dan Snaith mit dem Engagement von Marshall Allen, dem großen Sun-Ra-Weggefährten, den Improvisationsvogel abgeschossen hat, kann für diese Produktion gar nicht hoch genug gepriesen werden. Bezeichnend auch für die Distributionswege von Pop 2010: Dieses Götteralbum ist gar nicht im Handel erhältlich, sondern nur bei Caribou-Live-Gigs. Was meiner Wertschätzung aber keinen Abbruch tut. Eine kleine Himmelfahrt!
- 1. Sin Ropas - "Holy Broken"
Das multiinstrumentelle Ehepaar Tim Hurley und Danni Iosello ist seit geschätzten zwei Ewigkeiten mit dabei, wenn es um ebenso intelligente wie hochemotionale Dekonstruktionen von Folk, Americana und Slow Motion-Rock geht. Jedes ihrer zahlreichen Alben besitzt eine Halbwertszeit, die weit über normale Popverhältnisse reicht. Aber Holy Broken ist sogar in dieser wertvollen Discographie noch einmal ein Sprung nach vorn: praktisch jeder Song ein Heuler, jede Melodie zum Wegschmelzen und jedes brüchige Arrangement eine Zitterpartie, ob das Werkl nicht doch noch in sich zusammenbricht. Ganz große Innigkeitskunst ohne die damit meist einhergehende Wehleidigkeit, Gefühlsduselei und Selbstüberschätzung. Bingo! Bongo!
Katharina Seidlers ganze Wahrheit der Unordnung versumpfter Tanzböden
Naf: 4D / Flickr / Creative Commons / egger
- 15. Kerri Chandler - "The 11th hour"
- 14. Pantha du Prince - "Abglanz"
- 13. Health - "In Heat" (Javelin Remix)
- 12. Matthew Dear - "Slowdance"
- 11. Nicolas Jaar - "Mi mujer"
- 10. Kink - "Bitter Sweet"
- 9. Jon Hopkins - "Vessel" (Four Tet Remix)
- 8. Floating Points - "Peoples Potential"
- 7. Crookers feat. Roisin Murphy - "Royal T"
- 6. Moodymann - "Ol' Dirty Vinyl"
- 5. Eric Johnston feat. Francesco Tristano - "Near Harvest"
- 4. Frivolous - "C:\ My Consciousness"
- 3. Actress - "Maze"
- 2. Axel Boman - "Purple Drank / Not so much"
- 1. James Blake - "Tell her safe"
So - daran habt ihr wohl jetzt ein wenig zu kiefeln! Ihr könnt uns freilich auch gern loben (Honig ums Maul schmieren) und tadeln (zur Sau machen), doch bitte im zivilisiert höflichen Rahmen diskursiver Raserei. Danke! Wir drei SumpfistInnen wünschen Euch wie immer nur das Beste zum bevorstehenden Kriege und Gelegenheit zu guten Plünderungen.
Und ein heftiges Prost und Prosit!