Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Hitlers gefrorenes Sperma"

Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

22. 12. 2010 - 12:59

Hitlers gefrorenes Sperma

Es war heuer wieder einmal nicht leicht, die Insel zu verlassen.

„Sie sagen mir, Ihre Fahrer sind alle unterwegs. Aber gerade deshalb hab ich das Taxi doch vorgebucht!“
„Wann haben Sie es denn gebucht?“
„Gestern Nachmittag.“
„Ach so, gestern Nachmittag. Da konnten wir ja auch noch nicht wissen, dass wir heute morgen so viel zu tun haben würden.“

Es hilft nichts. Die Taxigesellschaft hat uns versetzt. Der große Reiseplan ist an der ersten Hürde gescheitert. Wir schleifen die Rollkoffer die alte römische Pilgerstraße runter bis zum nächsten Taxistand. Dort steht ein einsamer Fiat mit beschlagenen Scheiben. Ich schicke meinen elfjährigen Sohn vor und sag ihm, er soll draufklopfen.

Eine Scheibe senkt sich, und es dampft heraus in den frierenden Dunst der feuchten, südostenglischen Luft.

„So schnell wie möglich zum Bahnhof, bitte.“

Clive, ein Mann Ende fünfzig, mit dem wir die nächste Stunde verbringen werden, demonstriert das überzeugende Phlegma von einem, der nicht schneller kann, als er tut. Als wir am Bahnhof ankommen, sehen wir den High-Speed-Zug unseres Begehrens gerade abfahren.

Schöne Feiertage, liebes ORF-Gesetz, ich hoffe, es stört nicht, wenn diese schriftliche Begleitung meiner letzten Sendung, die aus hier erklärten Gründen zur Hälfte on the rails entstehen musste, erst mit Verspätung erscheint.

Was hat schon keine Verspätung dieser Tage?

Eines der Lieder in meiner Jahresrückblickssendung war "Strange Town" von The Clientele, das passt doch gut zu Wien, wo ich am Ende dieser Geschichte hier ankomme, mit einem "Silver Shirt" im Koffer (Wreckless Eric und Amy Rigby covern Plummet Airlines) aber ohne "My Ghost" (Black Shampoo), den ich zuhause in Canterbury gelassen hab.
"No More Excuses", sagst du?
Genau das haben die Bees auch gesungen in meiner Sendung.
"I'm aware", meinst du?
Stimmt, das meinten Clinic in ebenjener Sendung ebenfalls.
Na bitte, "We all agree" (laut Mika Vember).

Vor dem Bahnhofseingang, in der dunkelblauen Uniform der Bahngesellschaft, die schön mit dem sanften Fallen der Schneeflocken kontrastiert, steht eine blond-gefärbte, orange-getönte Frau mit Zigarette in der einen Hand und Kaffee in der anderen und stellt lakonisch fest: „Wir wissen nicht, wann der nächste kommt.“

Clive hat uns dann heldenhaft über die sich bedrohlich schnell vom Grauen zum Weißen wandelnde Autobahn bis zum Eurostar-Bahnhof in Ebbsfleet gebracht. Ich musste ihn überreden, das gelbe Licht seiner Benzinuhr ernst zu nehmen. Er sagte, das ginge sich schon aus, aber zu diesem Zeitpunkt war klar, was für eine Art von Tag es werden würde. Mein Ausdruck der wohlwollenden aber dringlichen Besorgtheit reichte dazu, ihn doch zum Auftanken zu überreden, obwohl das einen Arm und ein Bein kostet heutzutage.

Geld spiele eigentlich keine Rolle, es sei einmal da, dann wieder weg, ließ Clive uns wissen. Obwohl das derzeitige Wieder-einmal-weg-sein des Geldes offensichtlich mit seiner Bereitschaft zu tun hatte, sich mit einem Becher heißen Tees und einer austro-britischen Kernfamilie im Fond in seinem bibberkalten, sommerbereiften Auto Richtung Ebbsfleet aufzumachen.

Schnee aus dem Zugfenster

Robert Rotifer

Das einzige Foto der Zugfahrt, das es auf mein Laptop geschafft hat. Sagt irgendwie eh alles

Auf dem Weg erzählte er uns, dass er noch nie in Schottland war, noch nie in Wales, noch nie geflogen ist. Immer schön in good old England bleiben. Von dieser Weltsicht ausgehend, erklärte er uns Europa. Der ganze Trash da in Frankreich und Spanien und überall sonst. Und wie sie uns das Geld aus der Nase ziehen mit ihren korrupten Politikern.

Sie kommen aus Wien und sie fahren dahin?
Ist sicher lovely dort.

Eine interessante Sache habe er neulich erfahren. Hitler sei in Wahrheit in Österreich geboren. Hätte er nie gedacht. Und dann hat er noch eine interessante Geschichte gehört, die ganz Europa vertuscht, die aber wirklich wahr sei:

Wir hätten doch von dieser Angela Merkel gehört, oder? Apparently, sagt Clive, wurde Hitlers Sperma von den Nazis eingefroren und aufbewahrt.
Und dann sei mittels künstlicher Befruchtung sein Kind gezeugt worden, und dieses Kind sei Angela Merkel. Kein Wunder, dass die Deutschen sowas geheim hielten. Aber es erkläre so einiges.

Ich hatte ja ein paar Erinnerungsfotos von Clive und dem englischen Schnee gemacht, aber irgendwo im Transfer vom Telefon aufs Laptop hat der deutsche Geheimdienst sie gegessen.

In den restlichen 24 Stunden musste ich jedenfalls noch öfter an Clive denken. Wir gehörten nämlich zu den letzten, die es an diesem Tag von seiner guten, alten Insel runter schafften. Hinter uns fiel der weiße Vorhang.

In Belgien und in Deutschland hantelten wir uns von Station zu Station, von einem eingezogenen ICE zum nächsten, trotz „Triebwagenmangel“ und eingefrorener Kupplung, um schließlich auf dem letzten Drücker, wie Phileas Fogg, der sein Boot in voller Fahrt mit den eigenen Schiffsplanken befeuert, noch in Frankfurt den Nachtzug einzuholen, den wir in Köln verpasst hatten.

Nicht ahnend, dass die hinter uns Kommenden dort die Nacht auf Feldbetten verbringen würden. Aber seien wir uns ehrlich, so unter verwöhnten MitteleuropäerInnen: Eine Katastrophe ist trotzdem was anderes.

Ich wusste, dass wir österreichischen Boden betreten hatten, als die Nachtzugschaffnerin mir mit vorwurfsvoller Stimme erklärte, dass sie unser Abteil natürlich längst weiterverkauft hätte, weil wir in Köln nicht eingestiegen waren.
Ich machte sie auf den kalten, leeren Waggon aufmerksam, den ich auf der Suche nach ihr entdeckt hatte, und sie ließ sich dazu hinreißen, uns mit sauerer Miene ein Abteil aufzusperren. Irgendwann eine Stunde später bekamen wir sogar Bettwäsche dazu.

Um halb vier in der Früh in Nürnberg wachte ich panisch auf. Ich hatte in meinem Dusel mitgekriegt, wie am Waggon die Kupplungen gelöst wurden, und ich sah uns schon am nächsten Morgen aufwachen, ein einsamer leerer Waggon, leer bis auf die eine vergessene austro-britische Familie, verschollen irgendwo auf einem Abstellgleis in der fränkischen Wildnis.

Als ich in den Gang hinaus stolperte, wurde klar, dass sie ganz im Gegenteil bloß einen anderen Zug aus Hamburg angekoppelt hatten. Bei Ankunft in Wien hatten wir nur eine halbe Stunde Verspätung. Wir waren mürbe, aber wir waren da.

Weit weg im fernen Canterbury lag Clive in seinem guten, alten englischen Bettchen und träumte von gefrorenem Sperma.

PS: Die ganze Zeit über hatte ich noch die Bemerkung der netten Frau von der telefonischen Ticket-Vermittlung der ÖBB im Ohr, die mich im November beim Vorbuchen nach einer Stunde der Klärung Fahrplan- und Tarif-technischer Wirrnisse erschöpft gefragt hatte: „Sagen Sie, warum fliegen sie eigentlich nicht?“
Ha, mit dem Flugzeuge wären wir ja nie angekommen.

PPS: Und dann steht gestern Florian Obkircher bei der FM4-Weihnachtsfeier und erzählt entspannt und ausgeruht von seinem komplikationslosen vorgestrigen Flug aus London, und ich weiß genau, er hat das alles nur erfunden.