Erstellt am: 14. 12. 2010 - 15:33 Uhr
"Plötzlich waren wir Japse, Juden, Nigger"
"Plötzlich waren wir Japse, Juden, Nigger. Das war das Neue seitdem. Wir selber sahen uns lieber als Renaissance-Menschen, Flaneure, Bonvivants, wir – das waren AC, Jimbo und ich. Wir hatten uns überwiegend selbst erfunden und selbst erschaffen und waren überzeugt, die Finger am Puls der großen Weltdialektik zu haben."
kiepenheuer und witsch
Bereits im ersten Absatz von "Home Boy" wird das von den Protagonisten des Romans am eigenen Leib erfahrene Zerbrechen eines Weltbildes deutlich. Jimbo, AC und Chuck sind drei junge Pakistanis, denen im New York zu Beginn des dritten Jahrtausends die Welt zu Füßen zu liegen scheint. Gebildet, beliebt und finanziell halbwegs abgesichert, machen die drei Freunde gemeinsam das Nachtleben des Big Apple unsicher, kennen die geheimsten Underground-Clubs, die exklusivsten Privatpartys. Sie essen Penne mit Wodka-Sauce und die Siebenmeilen-Stiefel, mit denen sie die Stadt für sich erobern, sind aus Eidechsenleder. Der Bezug zu ihrer Heimat Pakistan ist stark, aber in keinster Weise fundamentalistisch motiviert – auf Schweinefleisch verzichtet man eher "aus Gewohnheit" – und Heimweh muss in dem multikulturellen melting pot "ihrer" Stadt New York sowieso nicht aufkommen.
Vom Entwicklungsroman ...
Chuck, der Ich-Erzähler, ist vor vier Jahren wegen eines Universitäts-Stipendiums von Karatschi nach New York gezogen. Sein Literaturstudium beendet er unter der Mindestzeit, interessiert sich danach jedoch für Finanzwesen und versucht sich mit einigem Erfolg als Investmentbanker. Als er im Juli 2001 wegen der schlechten Finanzlage seinen Job verliert, wird er kurzerhand Taxifahrer, was für ihn zwar einen Abstieg, aber dennoch keine Katastrophe bedeutet. Das Gefühl der eigenen Souveränität wird jedoch, ebenso wie das der ihn umgebenden Gesellschaft, mit den Terroranschlägen des 11. September jäh zersplittert. Misstrauen macht sich in Chucks Umfeld breit; nach einer ersten Rauferei mit Betrunkenen erhält er Hausverbot in seiner Lieblingsbar:
"Moslems, Mohikaner, ist doch scheißegal", bellte der zweite Rowdy.
"Ich bin aus Jersey, Digger!"
"Kratzt mich nicht, Meister!"
Die Zeitebenen des Romans vermischen sich. Gerne würden die drei so weitermachen wie bisher. Findet ihr gerade beschriebenes Treffen und Trinken noch in der Zeit ihrer Sorglosigkeit statt oder bereits in der Zeit des Vergessen-Wollens? Lange geht die Verdrängungs-Taktik sowieso nicht gut, denn Chucks Glaube an den amerikanischen Traum wird endgültig zerstört, als er und seine Freunde durch ein Missverständnis unter Terrorverdacht geraten und für einige Tage im Gefängnis landen. Beschimpfungen, Beschuldigungen und Misshandlungen durch die Polizei stehen dort an der Tagesordnung. 48 Stunden in U-Haft reichen aus, um das Weltvertrauen des Anfang-Zwanzigjährigen für immer zu erschüttern:
"Mal anders gefragt – was hast du am elften September gedacht?"
"Wa..."
"Hast du dich gefreut?"
"Das ist ja wohl absurd. Lassen Sie mich auf der Stelle telefonieren. Ich kenne meine Rechte."
"Du bist kein Amerikaner!", gab er zurück. "Hat sich was mit Rechten!"
Er machte eine Pause, damit ich das assertorische Urteil gebührend verarbeiten konnte. Die Implikation war merkwürdig unanfechtbar. So hatte ich die Sache noch nie betrachtet, ich hatte ja auch keinen Grund dazu gehabt.
Ebenso schillernd und bildhaft, wie das Gefühl der New Yorker Tage und Nächte zu Papier gebracht wird, ebenso plastisch wird in "Home Boy" die innere Verwandlung des Protagonisten in ein, wie es der Erzähler nennt, "gehetztes Tier" dargestellt. An scheinbaren Kleinigkeiten, dem verständnisvollen Blick des marokkanischen Zeitungsverkäufers, dem plötzlichen, kommentarlosen Verzicht seiner Freundin Amo auf den Hidschab, merkt man, dass es anderen Mitgliedern der Gesellschaft ähnlich geht.
In der ersten Hälfte des Buches kann einem die in den Dialogen dargestellte übertriebene Coolness von Chuck, AC und Jimbo mitunter ziemlich auf die Nerven gehen. ("Nachdem ich mich zu ihm [Jimbo, Anm.] durchgekämpft und ihm meinen Respekt erwiesen hatte – High five, Brustbump und so weiter – machte er einen Spruch wie 'Digger, kommst her, Martinis zu kippen, dir 'ne Frau abzuschleppen, bist'n Laster ohne Zaster, 'Adonis, 'Prophet, leb deinen Traum so lange es geht.")
Im Laufe des zweiten, düsteren Teils von "Home Boy" versteht man jedoch, dass der Autor seine Figuren auf ein so hohes Ross setzen musste, um ihre Fallhöhe zu vergrößern. Die Verzweiflung über den Verlust ihres alten Lebens, ihrer Sorglosigkeit, über die argwöhnischen Blicke ihrer Umwelt auf alle, deren physische Präsenz auf eine arabische Herkunft hinweist, wird dadurch umso deutlicher.
Zum Großstadtroman
Das Bild der Stadt scheint in "Home Boy" überaus authentisch zu sein. Man glaubt dem Erzähler, auch wenn man wie ich noch niemals in New York war, dass des Nachts die Sendung JazzSet auf dem Radiosender NPR läuft, man beim Links-Einbiegen von der Third Avenue in die 42nd Street überdurchschnittlich oft Strafzettel kassiert und das beste Falafel der Stadt bei Mamum im West Village zu kriegen ist. Das multikulturelle, überschwängliche, nimmermüde Lebensgefühl des Big Apple vermittelt Naqvi in bildreicher Sprache. Nicht nur durch die zahlreichen intertextuellen und intermedialen Bezüge funktioniert das Buch in gewisser Weise auch als Poproman. Die in zahlreichen Dialogen verwendete, realistische mündliche Sprache trägt zu der authentischen Darstellung seiner Gegenwart und Gesellschaft bei.
Tapu Javeri
Was sich vor allem zu Beginn als Großstadt- sowie Poproman präsentiert, führt mit der Zeit die innere Verzweiflung sowie die damit einhergehende Reife seines Protagonisten vor Augen und wird somit bis zum Ende ein durchaus berührendes Dokument einer everyday tragedy im Amerika des Post-9/11.
Inwiefern der Autor H.M.Naqvi in seinem Debütroman eigene Erfahrungen verarbeitet und literarisiert hat, bleibt offen. Auch er hat einen amerikanischen Uni-Abschluss in Literatur gemacht, auch er hat danach im Finanzwesen gearbeitet. Er unterrichtete kreatives Schreiben an der Boston University, betrieb mit dem Fifteen Minutes Club die einzige Slam-Poetry-Venue in Washington D.C. und vetrat 1995 Pakistan beim National Poetry Slam in Ann Arbor, Michigan. Heute lebt und schreibt er wieder in seiner Heimatstadt Karatschi.