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Natalie Brunner

Appetite for distraction. Moderiert La Boum de Luxe und mehr.

31. 3. 2011 - 15:23

Die Gundam Krieger von Chongqing

Über die Vermischung von Realität und Fiktion in einer lebensfeindlichen Umwelt. China, Teil 4.

Die Stadt Chongqing ist unfassbar groß. 32 Millionen Menschen leben in ihrem Einzugsgebiet. Wenn man Stadt als den Siedlungsraum innerhalb der administrativen Stadtgrenzen definiert, dann ist Chongqing die größte Stadt der Welt. Ich komme in der Nacht an und glaube, in einer chinesischen Version von Las Vegas, Sin City, Babylon gelandet zu sein.

natalie brunner

Der Kern der Stadt besteht aus mit Neonlichtern überzogenen Hochhäusern. Alles blinkt. Und da die Stadt auf Hügeln errichtet ist, ist es schwer, abzuschätzen auf welchem Höhenniveau man sich befindet. Von meinen Fenster ais kann ich den Jangtsekiang sehen. Schiffe mit riesigen LED-Wänden die in Werbefilmen die Schönheit der Region anpreisen fahren vorbei.

natalie brunner

Vor dem Fluss ist eine dreispurige Autobahn, auf der Menschen Lastenkarren ziehen. Unter der Autobahntrasse leben Menschen, die sich aus Müll und Treibgut Behausungen gezimmert haben. Auf der Seite des von der Straße betretbaren Hotelparkplatzes ist eine Tür in der Mauer. Öffnet man sie, blickt man auf ein zwanzig Stockwerke in die Tiefe gehendes Hochhausslum hinunter. Über allem liegt dichter Nebel oder Smog. Selten bin ich in derart menschenfeindlichen Lebensbedingungen gestolpert.

natalie brunner

Meiner inneren Logik nach macht es totalen Sinn, dass Foxconn Teile seine Produktion hierher verlagert und ArbeiterInnen unter unfassbaren Bedingungen unsere Laptops zusammenschrauben lässt. Das Lohnniveau ist hier noch niedriger als in ihrer alten Produktionsstätte, im Süden Chinas. Wo wenn nicht hier?

Cosplay mit Century 21

Ich brauche einen Tag im Hotelzimmer, um mit dem Außen zurecht zu kommen. Ich bin in Chongqing nicht nur, um mich einen persönlichen Belastungstest zu unterziehen, sondern auch, um Century 21 zu besuchen, eine der bekanntesten Cosplaygruppen Chinas. Cosplay stammt aus Japan und ist eine zirka zwanzig Jahre alte Jugendkultur.

natalie B

Beim Cosplay stellt der Teilnehmer eine fiktive Figur aus Manga bzw. Anime oder einem Videospiel durch Kostüm und Verhalten sehr sehr nah am gezeichneten oder digitalen Original dar.

natalie b

Eine Jugendkultur, die die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschiebt und teilweise sogar versucht aufzulösen, scheint mir in einer solchen, für mich schwer erträglichen Stadt logisch. Trotzt der Sprachbarriere gelingt es, zu vermitteln, was ich von ihnen will. Das Einladungsmail von Century 21 ist rührend:

natalie b

Hey,friend.
Jiulongpo District, Chongqing, Sichuan Academy of Fine Arts Huangjueping Centre Street. U could come when u have time , we at here almost all the afternoons. Our team welcomes u. :)

Century 21 haben ihr Studio in der Sichuan Academy of Fine Arts am Unicampus. Das Cosplay Team besteht aus KunststudentInnen, alle um die 20.

Ich hoffe das es möglich ist, Fragen zu stellen über Identität, Selbstverwirklichung, individuellen Freiheitszugewinn über das materialisieren von fiktiven Universen, obwohl ich weder ihre Sprache spreche noch das Zeichensystem in dem sie schreiben und denken ansatzweise kenne, geschweige denn verstehe.

natalie b

Die Mitglieder von 21 Century versuchen mir zu vermitteln, was es bedeutet große Teile seines Lebens damit zu verbringen, Kostüme zu basteln, damit man für 30-Sekunden-Auftritte und auf Fotos zu diesen Wesen und Maschinen aus Animes und Computerspielen wird. Anders als in Japan werden alle Kostüme, alle Accessoires selbst geschneidert, gebastelt und modelliert. Es ist keine Fan- oder Konsumkultur, alles wird selbst erschaffen. Plastik, Gummi und Schaumstoff bedeckt den Boden.

An einem Kostüm arbeitet eine Person zwischen drei und fünf Monate. Das Kollektiv einigt sich auf ein Universum, das sie darstellen wollen: Gundam, Neon Genesis, Wold of Warcraft und Chinesische Animes, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Dann sucht sich jedes Mitglied den Charakter aus, der ihm oder ihr am besten entspricht.

natalie b.

Manchmal nehmen sie auch Aufträge an. 3 bis 4 Monate arbeiten sie - je nach Charakter - an einem Anzug, der dann rund achttausend Euro kostet. Präsentiert werden die in die Realität getretenen Roboter, Monster und Krieger bei Wettbewerben wie der Chinajoy die jeden Mai in Shanghai stattfindet. Viele Mühen für einen kurzen Aufenthalt in selbstgeschaffene Welten.

natalie brunner