Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "The Big Goodbye"

Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

12. 12. 2010 - 13:24

The Big Goodbye

Franz Reisecker nimmt Abschied von seinem Solo-Projekt Lichtenberg und dZihan & Kamien gehen musikalisch von jetzt an getrennte Wege. Eine FM4 Soundparknacht der großen Abschiede.

Denn alles was entsteht ist wert dass es zugrunde geht

Dieser Ausspruch von Mephistopheles in Goethes Faust wird gern bemüht, wenn es um Abschiede geht. Ich halte es da lieber mit der Idee, dass wenn etwas zu Ende geht, Platz und Raum für Neues entsteht. Und trotzdem liegt in der Rückschau, die immer sowohl einen Hauch von Sentimentalität und Melancholie als auch Witz und Humor beinhaltet, eine gewisse Faszination für das, was abgeschlossen wird. Die Erinnerungen von mehr als einem Jahrzehnt werden mit der Musik dieser Zeit unterfüttert und ergeben so ein wundervolles Mosaik aus Puzzlestücken der persönlichen Lebens- und Schaffensphasen. Für rund drei Stunden widmet sich der FM4 Soundpark zwei Projekten, die von ihren Gründern liebevoll zu Grabe getragen werden, ganz ohne Trauermarsch.

Im Auto mit der stöhnenden Jane Birkin

Vor vierzehn Jahren veröffentlichen zwei Wiener Musiker und Produzenten eine Single namens "Der Bauch" und finden sich damit gleich europaweit auf vielen Tanzflächen angesagter Clubs wieder. Es ist die Zeit, in der das Label Vienna Sound die Umbenennung zum "Wiener Kaffeehaus Lounge" erfährt, was wiederum die Sättigung des Marktes mit den wabbligen Dubbässen erkennen lässt.

dZihan & Kamien Album Cover "Gran Riserva"

dZihan & Kamien

Doch Vlado dZihan und Mario Kamien schöpfen für ihr Projekt dZihan & Kamien aus einem größeren Musiktopf. Beispielsweise für ihren Meilenstein "Gran Riserva", auf dem sie mit vielen Jazzanleihen ihre Väter huldigen, fliegen sie nach Istanbul um dort mit exzellenten Musikern akustische Parts einzuspielen. Von wegen Laptop-Wohnzimmerproduktion. Auch wenn Vlados und Marios ihr selbst gegründetes Label Couch Records nennen, ist der produktionstechnische Rahmen größer als ihre Heimat. Die intensiven Recording-Sessions finden meist in der Toscana statt und bei der Live-Umsetzung von "Gran Riserva" findet auf der Borgy&Pess Bühne sogar zweiundzwanzig Musiker Platz, was die beiden Produzenten im organisatorischen Vorfeld schon nah an die Belastbarkeitsgrenzen führt. Das Ergebnis ist auf der beeindruckenden "Live in Vienna" Platte festgehalten.

Mario Kamien und Vlado dZihan

dZihan & Kamien

Vlado dZihan und Mario Kamien lassen sich für ihre Alben immer genug Zeit, im Fall von Music Matters sogar mehrere Jahre, wobei damals schon deutlich wird, dass sich die Entwicklungen der beiden in verschiedene Richtungen laufen.

dZihan & Kamien Albumcover "Lost And Found"

dZihan & Kamien

Mit "Lost & Found" erscheint nun zum Abschluss ihrer Zusammenarbeit ein Doppelalbum mit unveröffentlichten, exklusiven Stücken. Solch ein Ende mag auch gebührend gefeiert werden. Deshalb hören wir uns mit Vlado und Mario durch all ihre Werke und lassen uns von den beiden Freunden erzählen, wie sie zu Beginn ihrer Karriere mit dem Vinylkoffer zu Fuß durch London von Plattenladen zu Plattenladen gepilgert sind, spüren die Hitze wenn dZihan und Kamien die Aufnahmen in der sommerlich heißen Toscana Revue passieren lassen und staunen nicht schlecht, wenn Mario aufzählt was es braucht, um ein ganzes Orchester aus Istanbul einzufliegen, um ein einziges Konzert zu geben.

Ich hatte ganz vergessen, dass dieses Gespann einen großartigen Humor besitzt und Mario nicht selten zitierwürdige Sätze vom Stapel lässt, wie in unserem Gespräch zu "Musik Matters" der Kommentar fällt:

"Klar kann Mariah Carey zwölf Oktaven höher und besser singen als ich, aber ich singe die fünf richtigen."

Diesmal ist es die Geschichte zum Remix der Serge Gainsbourg Klassikers "Je T`aime, ... Moi Non Plus", die mich unentwegt schmunzeln lässt. Schließlich wurden Vlado und Mario durch die Arbeit mit den Originalaufnahmen von Gainsbourg zeitversetzt Zeuge der damals skandalösen Stöhnaufnahmen von Jane Birkin.

Okay, selbst wenn Mario anklingen lässt, der ganze Abschied sei nur ein Marketinggag, wünsche ich den beiden Musiker in jedem Fall alles Gute und weiterhin große Erfolge.

The Bib Goodbye with DZihan & Kamien:

artist song label
dZihan & Kamien Before Couch Records
dZihan & Kamien Ocean Air Couch Records
dZihan & Kamien Stiff Jazz Couch Records
dZihan & Kamien Dundadeova Couch Records
dZihan & Kamien Thirll feat. Madita Couch Records
dZihan & Kamien Ahmet & Sammy Couch Records
dZihan & Kamien Billie Holiday Couch Records
Serge Gainsbourg Je t'aime moi non plus (dZihan & Kamien Remix) Couch Records
dZihan & Kamien I Wish Couch Records
dZihan & Kamien EPA Couch Records
dZihan & Kamien Satellite Tank Couch Records

Heranpirschen an die Königsdisziplin

Mit stylischer Brille und grau-melierten Haaren steht Franz Reisecker im Foye des Funkhauses vor mir. Zwar ist unser letztes Interview gerade einmal sieben Monate her und trotzdem scheint sich der oberösterreichische Musiker verändert zu haben. Er lässt zwar immer noch oft seinen trockenen Humor aufblitzen - den ich sehr schätze und der ein Gespräch mit dem Produzent kurzweilig werden lässt - trotzdem wirkt der unter dem Namen Lichtenberg in der Szene bekanntgewordene Soundforscher ausgeglichener, in sich ruhender. Vielleicht ist auch das Beenden seines Soloprojekts ein Grund dafür, dass Franz Reisecker wieder den Kopf frei und damit auch mehr Zeit hat, sich neuen Dingen zu widmen. Zur Feier der Soloprojektauflösung hat er in seiner Tasche alle Alben, die er als Lichtenberg in den letzten eineinhalb Jahrzehnte veröffentlicht hat.

Franz Reisecker alias Lichtenberg

Georg Eckmayr

Die Geschichte von Lichtenberg beginnt mit dem Track "Rigoletto", der lange Zeit als Abschlussnummer der Sendung Im Sumpf jeden Sonntag gespielt wurde. Es ist ein düster-melancholisches Instrumentalstück, das die aufkommende Drum'n'Bass Zeit mit Reiseckers Erfahrungen als Gitarrist im Indiegeschehen der Neunziger verbindet. Schon damals besticht seine Arbeit durch sperrig schöne Samples und digitale Schnipsel, die seinem Klanguniversums eine verschrobene Eigenheit verleihen. So nennt Franz Reisecker sein erstes Album auch "musik for refreshing the system".

Die Detailverliebtheit und permanente Suche nach außergewöhnlichen Sound begleiten Franz Reisecker auch bei den beiden Klein Records Veröffentlichungen "Vacation" und "5 Lives". Erst mit "Flimmern" kehrt der manische Klangkomponist zum Bandformat zurück und nimmt seine Songs in einem Studio in Klagenfurt auf. Zur Seite steht ihm Naked Lunch Bassist Herwig Zamernik, den Franz durch seine Arbeit beim Trio Exklusiv kennenlernt. Doch die Dynamik scheint nicht richtig zu funktionieren, wie Franz Reisecker retrospektiv erklärt, schließlich habe es sich bei Lichtenberg immer um ein Soloding gehandelt, bei dem es keine Einschränkungen und keine Kompromisse gibt. So ist "Don't Let Them Down" im Jahr 2007 eine Kombination aus Lichtenbergs Stärken und innersten Wünschen: eingängige Songstrukturen, elektronischer Forscherdrang und das Einbringen anderer Musikwelten durch Gastmusiker.

Albumcover "Schlaflos" von Lichtenberg

Georg Eckmayr

Am Ende seiner Soloreise veröffentlicht Franz Reisecker mit Schlaflos sein fast stimmigstes und schönstes Album auf dem eigenen Label Schiff Ahoi Schallplatten, bei dem David Bowie, Robert Wyatt und Nina Hagen inspirativ Pate standen. Dieses Album ist wohl der mutigste Versuch, sich an die Königsdisziplin Pop heranzupirschen, wie Franz Reisecker meint. Mutig deshalb, weil der Oberösterreicher Zeit seines musikalischen Schaffens sich immer zwischen die Stühle gesetzt und auf so vielen Genre-Hochzeiten zugleich getanzt hat, dass dieser Eklektizismus bei Lichtenberg zum Normalzustand gehörte.

Im Nachhinein betrachtet ergibt diese Werkschau ein in sich recht rundes, stimmiges Bild, das von persönlichen Lebensentscheidungen und musikalischen Sehnsüchten gemalt wurde und von Franz Reiseker selbst in einer ausführlichen Listening Session kommentiert wird. Auch ihm alles Gute weiterhin, unter anderem für sein Folgeprojekt "Jagedgesellschaft", an dem er gemeinsam mit Wolfgang Schlögel schon fieberhaft arbeitet.

The Bib Goodbye with Lichtenberg:

artist song label
Lichtenberg Rigoletto Plag Dich Nicht
Lichtenberg Downtown Klein Records
Lichtenberg 5 Lives Klein Records
Lichtenberg Eisenstrand Pate Records
Lichtenberg Don't Let Them Down Schiff Ahoi Schallplatten
Lichtenberg Pictures Part II Schiff Ahoi Schallplatten
Lichtenberg Am Fluss Schiff Ahoi Schallplatten
Lichtenberg Floating Nowhere Schiff Ahoi Schallplatten
Lichtenberg Alles Leuchtet (I Wolf Remix) Schiff Ahoi Schallplatten
Jagdgesellschaft Menschen Fressen Menschen not released

Außerdem in der FM4 Soundparknacht:
Eine Listening Session durch das neue Album "don't forgeth the birthday cake" von dem Musikerkollektiv Destroy, Munich und ein Interview mit Stefan Redelsteiner, dem Gründer von Problembär Records, mit anschließendem Songmix. Denn kommenden Sonntag am 19. Dezmeber feiert das Label seinen dritten Gebutrstag im Wiener Flex mit dem Live-Bands: Der Nino aus Wien, Neuschnee, Mob und Parkwächter Harlekin!

Das alles könnt ihr hören in der FM4 Soundparknacht Sonntag 12. Dezember 01:00 Uhr nachts bis Montag 13. Dezember 06:00 Uhr früh. Und für alle, die doch in sanften Tiefschlaf entgleiten sollten, gibt es die kompletten fünf Stunden ab Montag Mittag hier nachzuhören. in diesem Sinne: Schöne Weihnachtszeit!