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Philipp L'heritier

Ocean of Sound: Rauschen im Rechner, konkrete Beats, Kraut- und Rübenfolk, von Computerwelt nach Funky Town.

10. 12. 2010 - 12:11

Leiche im Keller

Das Projekt Dreamend übersetzt auf seinem neuen Album „So I Ate Myself, Bite By Bite“ spukhaftes Ambiente, den Abstieg in den Wahnsinn und schließlich den Akt des Tötens in überraschend lebensfrohen Minimal-Folk. Das FM4 Album der Woche.

Vor Kurzem erst hat Ryan Graveface ein marodes Haus in Savannah, Georgia im Südosten der USA gekauft – seinen Angaben zufolge, auch der Legende nach, die am meisten heimgesuchten Stadt des gesamten Landes. In den Bücherregalen steht noch der Staub auf den massiven Trümmern aus Zeiten von vermutlich vor dem Bürgerkrieg, und die Sonnenstrahlen, die durch das einzige nicht zugehangene Fenster - es wird morgen, wahrscheinlich übermorgen eine neue Scheibe eingesetzt werden – in den Raum fallen, lassen die Spinnweben zwischen den Wandschränken, zwischen den Sprossen der ins Obergeschoss führenden Treppe als magische Nebel erhellen.

Dreamend

Dreamend

Dreamend: Es ist alles sehr mysteriös

Ryan Graveface hat ein Faible für das Gespenstische, das übernatürliche Rumoren zu nachtschwarzer Stunde draußen im Garten und interessiert sich für die durch den spirituellen Äther geführten Gespräche mit den Toten – auch wenn er meint, dem ganzen Hokuspokus mit leuchtender Begeisterung zwar, dabei aber dennoch skeptisch gegenüberzustehen. Er sammelt auf halblegalen Flohmärkten zusammengeklaubten Bizarro-Quatsch, baufällige Gerätschaften, absichtlich hässliches Kunsthandwerk und – die Königsdisziplin – ausgestopfte Tiere. Nagegetier, das schielt, dominiert wird von Schönheitsfehlern, Abnormitäten und chirurgischen Unfällen, schließlich ein Eichhörnchen, dem ein eifriger Präparator Kopf und Hinterteil abgetrennt und an der jeweils gegenüberliegenden Stelle wieder an den Rumpf genäht hat. Wie in jedem guten Horrorfilm, so sagt Ryan Graveface, steht sein Haus auf einem ehemaligen Friedhof. Der Mann heißt tatsächlich so.

Unangemessen sonnendurchflutet

Dreamend

Dreamend

Die von Pittsburgh, Pennsylvania aus operierende Band Black Moth Super Rainbow, die in den letzten Jahren mit verwaschenen Klangbildern zwischen psychedelischem Pop und Experimental-Elektronik positiv aufzustoßen gewusst hat, mittlerweile aber, so scheint's, sich in Auflösung oder immerhin undefinierter Pause befindet, hat stets ein Spiel mit dem Rätselhaften und Undefinierten betrieben, absurd-kryptische Symbolik bemüht und ihre Mitglieder hinter dämlichen Pseudonymen versteckt: Tobacco, Father Hummingbird oder The Seven Fields of Aphelion. Innerhalb des Haufens Black Moth Super Rainbow, der in mehrere Seitenprojekte diversester Färbung zerfällt, verfolgt Ryan Graveface, Bassist und Gitarrist der Band sowie Betreiber des hauseigenen Labels Graveface Records, mit seinem Solo-Unternehmen Dreamend den vergleichsweise konventionellsten Musikentwurf: Auf seinem höchstwahrscheinlich fünften (je nachdem wie genau man CD-Rs und Tapes katalogisieren und bewerten möchte), bei Memphis Industries erschienenen Album "So I Ate Myself, Bite By Bite" entwirft er eine seinem Thema völlig unangemessen sonnendurchflutete Folk-Musik, glasklar und transparent, in der auf konstant hohem Niveau wenig Überraschendes geschieht. In der Leichtigkeit, der Unbekümmertheit der Musik liegt die notwendige Stärke der Platte, hier frohlockt der Gegenpol zu der sinistren Geschichte, die Dreamend uns erzählen möchte - Ryan Graveface hat sie aus dem giftigsten Morast seines Körpers gezogen. 402 Banjos singen einen jubilierenden Todesblues. Southern Gothic ohne Bedeutsamkeitsgepolter.

Dreamend

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Nachdem nächtlichen Zirpen der Grillen und dem Knacken des Feuerholzes lässt das Intro zu "Pink Cloud In The Woods", dem Eröffnungsstück auf "So I Ate Myself, Bite By Bite", kaum Zweifel daran, dass hier nun eine niedlich-verspielte, eine lebensfrohe Musik auf die Hörerin und den Hörer hereinstürzen wird: Eine muntere Piano-Melodie, süßliche Tupfer eine Glocken-Spiels - stets verlässlicher Herold der Zuckerwatte.

Inhaltlich durchzieht das Album ein loser Erzählstrang. Ein Mensch hört Stimmen. Pein in Leben, Psyche und Körper. Auf dem Dachboden des Hauses von Ryan Graveface tobt eine Basketball-Mannschaft, öffnet er die Luke, dann ist da niemand. Die Holzdielen des Fußbodens jammern, Liebesängste, Verlust der Vernunft - schließlich muss jemand sterben. Durch Menschenhand. Die Geschichte vom schritthaften Durchdrehen.

Ungleichgewicht

Man muss das alles gar nicht wissen: Das an sich von wenig neuem Erkenntniswert getragene Thema "Serial Killer" bleibt auf "So I Ate Myself, Bite By Bite" vage genug, von erfreulicher Schemenhaftigkeit, in die auch ganz andere Dinge hineingelesen werden können. Aus dem Ungleichgewicht zwischen den enigmatisch schimmernden Lyrics und der Euphorie in der Musik erwächst hier zwar die besondere, nichts Gutes verheißende Stimmung dieser Platte - man könnte aber auch bloß dem herrlichen Fingerpicking lauschen, den Glöckchenklängen, der Pedal Steel Gitarre, dem minimalistisch polternden Schlagzeug und der porösen Stimme von Ryan Graveface, wie er sich da und dort in sich überschlagende Chorgesänge aufschwingt. Man könnte sich wundern, wie aus einem so eng gesteckten ästhetischen Rahmen so viel Freude sprießen kann, man könnte die Texte in den Büchern und die Sonne sich ins Gesicht strahlen lassen.

Dreamend ALbum Cover

Dreamend

"So I Ate Myself, Bite By Bite" von Dreamend ist bei Memphis Industries erschienen

Anfang 2011 soll ein zweiter Teil von "So I Ate Myself, Bite by Bite" von Dreamend erscheinen, zuvor aber muss Ryan Graveface noch das Blut von seinen Händen waschen. Nachdem alle Vorkehrungen getroffen sind, wandert sein Blick noch einmal über den Fußboden des Kellers. Er huscht durch die Hintertür seines Hauses hinaus in den Garten, wartet auf die Flammen, die alle Beweisstücke verschlingen werden, und denkt darüber nach, ob denn der Titel seines aktuellen Albums wirklich adäquat, der Platte gerechtwerdend, das ihr innewohnende, herrliche Gleichgewicht zwischen Humor und Psycho-Schmerz, zwischen Selbstzerfleischung und lockerster Pop-Unterhaltung wiederspiegelt. Er geht in den Wald und ist zuversichtlich.