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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

8. 12. 2010 - 02:41

Imagine that.

Warum der letzte Rest der Relevanz von John Lennon in seiner heutigen Unvorstellbarkeit liegt.

Ob ihr es wissen wollt oder nicht: Ja, ich erinnere mich an den Tag, als John Lennon starb. Ich war gerade einmal elf, aber längst ein obsessiver Beatles-Fan. Und das erste tiefe Gefühl, das ich an jenem 8. Dezember empfand, war schlechtes Gewissen.

Weil ich zuerst, als mir meine Schwester beim Aufwachen davon erzählt hatte, so tat, als würde ich da völlig drüber stehen. Wie das halt so ist, wenn man zum ersten Mal im Leben das Konzept Coolness an sich selbst ausprobiert und für die nächsten paar Wochen, Monate oder Jahre zum unausstehlichsten Wesen der Welt mutiert. Mit schlechtem Gewissen im verborgenen Inneren.

Das zweite, was ich empfand, war Ärger. Die Sorte Ärger, die man spürt, wenn man ein Modellauto zusammenbaut, einem dabei ein essentieller Aufkleber im Wasserglas zerreißt und man begreift, dass jetzt aber wirklich alles auf ewig hin ist.

John Lennon hätte sich mit zynischem Spott über das ORF-Gesetz hinweggesetzt. Ich dagegen halte mich an die Regeln der Gesellschaft und weise daraufhin, dass dieser Beitrag kommentiert werden darf, weil er die John Lennon-Todestags-Festspiele im heutigen FM4-Radioprogramm begleitet.

Unter anderem kommt in der FM4 Homebase mein Yoko Ono-Interview dran. Jawohl.

Zum Zeitpunkt der Ermordung John Lennons - da muss man sich rückblickend reinversetzen - hätte ja nämlich noch alles auf eine Weise gutgehen können, wie sie ein Elfjähriger versteht. Sprich: Die Beatles wären vielleicht wieder zusammengekommen.

Reunion?

Aus der Perspektive eines Wiener Kinderzimmers
sahen die Vorzeichen dafür gar nicht so schlecht aus. Der gerade erst aus seiner langen Phase der Isolation an die Öffentlichkeit zurückgekehrte John hatte sich wieder die Haare schneiden lassen und trug jetzt beinahe sowas wie einen Pilzkopf, ja offenbar sogar Kontaktlinsen. Jedenfalls war er ohne Brille fotografiert worden. Wenn das kein Zeichen war.

Und Paul McCartney hatte mit "McCartney II" gerade sein bestes Album seit langer Zeit herausgebracht. Das seh ich auch heute noch so: Songs wie "Coming Up" oder "Temporary Secretary" sind gewitzter Electropop auf der Höhe seiner Zeit, wenn nicht gar einen Schritt oder zwei voraus. Vor allem aber war er dabei seine Wings losgeworden, war also musikalisch sozusagen single und verfügbar.

Harrison hatte im Jahr davor mit "Dark Horse" gezeigt, dass er immer noch mehr als nur Gärtnern drauf hatte, und Ringo hatte schon lang nichts mehr Besseres zu tun als Klamaukfilme zu drehen ("Caveman", hab ich im Frühling drauf gesehen und mit meinem frühpubertären Blick gleich verstanden, was er an seiner Filmpartnerin Barbara Bach gefunden hat).

Und just in diesem Moment der Hoffnung kommt einer daher, nimmt uns einen Beatle weg, und - wie Lennon es selbst zehn Jahre vorher im Song "God" so unmissverständlich formuliert hatte - "the dream is over". Endgültig.

Ich war bis dahin ein frecher kleiner Lennon-Skeptiker gewesen. Seine Selbstgerechtigkeit war an den Kindern der Hippie-Generation, die nie so locker war, wie sie tat, nicht unbemerkt vorüber gegangen. Und sein zum Zeitpunkt seines Todes gerade erschienenes letztes Werk machte es einem auch nicht leichter. Der nostalgische Lass-es-uns-noch-einmal-versuchen-hier-hast-du-einen-Strauß-Blumen-und-ich-bleib-heute-einmal-nicht-länger-im-Büro-Eherettungs-Schlonz von "(Just Like) Starting Over" und dann erst die penetrante Frauengutfinderei von "Woman" - "Woman / I know you understand / The little child inside the man" - klangen selbst für einen Elfjährigen schon zum Fremdschämen.

Irgendwann lief dann in der Music Box auf Ö3 zu Lennons Gedenken eine Analyse des zu jener Zeit neun Jahre alten "Imagine"-Albums in der Serie "Die komplette LP". Eine vertrauenswürdige Stimme (war es Kos, war es Schrott oder einer der Schauspieler, vielleicht Franz Katzinger?) erklärte uns die Wichtigkeit der Nummer für die Friedensbewegung. Meine Schwester kaufte die Single, ich ging später zum Hannibal auf dem Karlsplatz und erstand um zehn Wochen Taschengeld die LP.

Lennon am weißen Klavier

Robert Rotifer

Imagine there's no Heaven: Der weiße Steinway auf dem meiner "Imagine"-LP beigelegten Poster

Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass diese Platte zwar eine moralisch wie musikalisch zutiefst dubiose, meine Investition aber trotzdem eine gute gewesen war. "Imagine" ist heute noch ein Lehrstück sondergleichen. Zunächst einmal über das unendliche Potenzial des Popsongs, Heuchelei zu absorbieren.

Ja, es ist absolut unerträglich das Video dazu anzusehen

Wie der Millionär John am blütenweißen Klavier singt, während Yoko die Fensterläden aufmacht, durch die die südenglische Sonne in den Salon seines Herrschersitzes in Tittenhurst auf den blütenweißen Spannteppich scheint, den das Paar im ganzen Gebäude verlegen lassen hatte, nachdem es ausgehöhlt, von allen Spuren seiner Geschichte gereinigt und innen wie außen in die Farbe Unschuld getüncht worden war; vor den Fenstern der Blick auf den Garten mit dem künstlichen Teich, den die Lennons dort anlegen hatten lassen: "Imagine no possessions".

Ich bin weder der Erste noch der Tausendste, der diesen Widerspruch bloßstellt, aber er bleibt einer der schwersten Sündenfälle in der Geschichte des politischen Pop. Und trotzdem ist und bleibt "Imagine" gleichzeitig auch, wie die Music Box es mir so richtig beigebracht hatte, einer der erfolgreichsten, gelungensten Agit-Pop-Songs. Weil Lennon darin weder einen Zustand beschreibt, noch eine Diagnose fällt oder seinen Kontext konkretisiert, sondern den Blick nach vorne richtet und utopische Möglichkeiten eröffnet.

"Stell dir vor" ist die Aufforderung, alles, was man will, in dieses unschuldige Weiß hineinzuschreiben, und sich in diesem Akt mit all den anderen TräumerInnen zu vereinen, so dass "the world can be as one". In dieser optimistischen Konklusion geht "Imagine" ganz auf Linie mit dem zu jener Zeit als ultimativer Demonstrations-Song fungierenden, von Pete Seeger modifizierten alten Gospel "We Shall Overcome".

Das ist, was in der No Future-Stimmung des Punk, den Lennon im Dakota Building abgeschottet völlig verschlafen sollte (vorgeblich als Hausmann beim Brotbacken, tatsächlich laut Augenzeugenberichten vielmehr in schwerer Narkose), einfach nicht mehr reinging; und was sich zu Zeiten der letzten großen Politisierungen des Pop wie der britischen Anti-Thatcher-Mobilisierung Mitte der Achtziger oder dem afrikanisch-amerikanischen HipHop der frühen Neunziger höchstens noch in Kombination mit kämpferischer Attitüde, in Opposition zum herrschenden Zeitgeist und dem Lauf der Dinge vermitteln ließ.

In den USA und Großbritannien, die in den Siebzigern bereits einen brutalen Backlash gegen jene progressiven Sechziger durchmachten, die Österreich erst nachzuholen hatte, erschien "Imagine" 1971 ironischerweise zu einem Zeitpunkt, wo niemand mehr so recht an seine Verheißung glauben wollte: Zwei Monate nach "Won't Get Fooled Again" von The Who, zwei Jahre nach "You Can't Always Get What You Want" von den Stones, siebeneinhalb lange Jahre nach "The Times They Are A-Changin'", dem letzten politisch optimistischen Dylan-Song.

Lennon selbst legte ein Jahr später das in seinem politischen Gestus zutiefst pessimistische, in der Wahl seiner Ziele sehr konkrete, kommerziell dementsprechend weniger erfolgreiche "Some Time in New York City" nach.

Ja, in Sachen zeitgemäßer Relevanz und Glaubhaftigkeit war "Imagine" sogar ein Rückschritt gegenüber dem ein Jahr davor veröffentlichten Urschrei-Album "Plastic Ono Band", das mit Songs wie "Isolation" oder dem angesprochenen "God" ("I don't believe in magic / I-Ching / Bible / Tarot / Hitler / Jesus / Kennedy / Buddha / Mantra / Gita / Yoga / Kings / Elvis / Zimmerman (sic!) / Beatles / I just believe in me") die perfekte Untermalung zum Anbrechen der egozentrischen "Me Decade" geliefert hatte.

Ad Mythos von wegen John der Arge, Paul der Brave: Wer das genauer widerlegt haben will, lese Barry Miles' unverzichtbare McCartney-Bio "Many Years From Now", Ian MacDonald's im hier verlinkten Wikipedia-Artikel erstaunlich unrichtig zusammengefasstes Werk "Revolution in the Head" oder jede brauchbare Beatles-Bio bzw. studiere die Hintergründe des Zusammentreffens von John und Yoko, die Hintergründe, warum Lennons Solo-Alben auf Apple rauskamen, die Geschichte rund um Allen Klein und so fort und weiter.

Aber selbst das war in diesem Fall egal

Der Imagine-Lennon, der Give-Peace-A-Chance-Lennon, der Power-to-the-People-Lennon genießt eine vom echten Leben seines ambivalenten Darstellers losgelöste Bedeutung als diffuses und gerade deshalb so universell beliebtes Symbol für einen noblen Idealismus, ungetrübt durch die fragwürdige Treffsicherheit seiner Polemiken ("Woman is the Nigger of the World" ist aus dem Mund eines weißen Mannes eine ziemlich untragbare Ansage, "Revolution" ein zutiefst anti-revolutionärer Song) bzw. verstärkt durch den Mythos des Freiheitskämpfers Lennon (siehe die gern erwähnte, aber eigentlich wenig außergewöhnliche FBI-Akte), sowie die historisch bei auch nur ein kleines bisschen genauerer Betrachtung völlig widersinnige, von einer fehlgeleiteten Sehnsucht nach Gut-Böse-Narrativ beseelte Tendenz zum Lennon-experimentell-wild-und-kritisch / Paul-Mc-Cartney-peinlich-brav-und-angepasst-Finden (am weitesten verbreitet unter Leuten, die einem dann sagen, dass sie eigentlich sowieso die Stones lieber haben).

Lennon - und das ist ein Verdienst, das ihm trotz seiner vielen unverzeihlichen Fehler niemand nehmen kann - überdauert als die personifizierte Emanzipation eines Popstars von der Marionette des Entertainment-Business zum gefährlichen Staatsfeind, stellvertretend für die Befreiung einer Generation. Er (und nicht etwa der in seiner frühen Folk-Phase konkret politische, mit seinem Einstieg in die Popwelt kryptisch gewordene Bob Dylan) steht am Ursprung der Idee des Pop als progressives, bewusst subversiv eingesetztes Medium - das "Trojanische Pferd", als das er die Beatles einmal bezeichnete.

Im Zusammenhang mit den aktuellen britischen StudentInnenprotesten haben nun in den letzten Tagen alle möglichen Leute ihre nostalgischen Kommentare dazu abgelassen, dass es heutzutage keine politischen Popstars mehr gäbe, siehe Jonathan Freedland im Guardian, John Harris im Guardian, gar ein gewisser Mic Wright im längst völlig entpolitisierten NME (derselbe Autor hat kurioserweise wenige Tage später Johnny Marr dafür gerügt, dass er David Cameron die Smiths verbieten will).

Alle diese Kolumnen erlauben sich die Naivität so zu tun, als würde künstlerische Originalität im Pop automatisch an die sichtbare Oberfläche dringen. Was sie beharrlich unerwähnt lassen, ist jener zentrale Punkt, in dem marxistische und monetaristische Analysen konform gehen: Schauen, woher und wohin das Geld fließt.

Der 30. Todestag von John Lennon

Imagine that.
Warum der letzte Rest der Relevanz von John Lennon in seiner heutigen Unvorstellbarkeit liegt. (Robert Rotifer)

A John in the City
Lokalaugenschein an den Tatorten The Dakota und Strawberry Fields - John Lennon Memorial im Central Park. (Christian Lehner)

Ein Arbeiterklassenheld zu sein
Das ist schon was. Ein John Lennon Mixtape zum 30. Todestag (Boris Jordan)

Come And Get It
Im Zuge der Beatles- und John Lennon-Festspiele wurden auch eine Reihe Alben der Beatlesplattenfirma Apple neu aufgelegt. (David Pfister)

Popmusik wird nie wieder eine derart zentrale Identifikationsfunktion ausüben wie einst vor ihrer Assimilierung in den Mainstream.

Das ist mittlerweile klar. Die Omnipräsenz des Pop als globaler kultureller Universalkonsens hat zwangsläufig zu einer Banalisierung seiner Produkte geführt. Während sich Rebellion in Praxis oder Pose der entfremdeten Jugend verkaufen ließ, ist sie für ein Konsensprodukt per Definition unbrauchbar.

Die Anpassung des politischen Popsongs an diese veränderten Voraussetzungen führte schon in den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts zur Mutation von "Imagine" zum Standardformat der "make a difference" / "take a stand" / "make the world a better place"-Charity-Song-Plattitüde.

Das allein ist aber noch keine brauchbare Antwort auf die von den obigen Kommentatoren gestellte Frage, warum etwa die StudentInnenproteste in Großbritannien immer noch auf ihren Soundtrack warten. Schließlich geht mit der Omnipräsenz auch eine endlose Diversifizierung einher.

An den von Narzissmus und Sendungsdrang angetriebenen Rändern des de facto nicht mehr existierenden Geschäfts wird zur Belustigung der längst Bekehrten ja auch tatsächlich da und dort Satire betrieben, polemisiert und protestiert. Die schiere, plump missionarische Anmaßung eines "Give Peace A Chance", "Imagine" oder "Power to the People" lässt sich allerdings nur aufbringen, wenn einem schon die jugendlichen Massen an den Lippen hängen.

Wieso also lässt sich nicht genauso wie zu Beatles Zeiten, als ebenfalls ein bereits bestehender Mainstream des belanglosen Pop unterwandert werden musste, ein neues Trojanisches Pferd satteln, um erneut mit politischem Liedgut jene Masse der Zornigen zu ködern?

Meine Erklärung dafür wird, so fürchte ich, den bourgeoisen Anti-Copyright-AnarchistInnen nicht so gut gefallen:

Rebellion in Songform wird nämlich nicht mehr an die Massen verkauft, weil die Massen Musik an sich nicht mehr kaufen. Um den nötigen Promotion-Push zu finanzieren, der einen Song aus dem trotz des schwindenden Markts dank der Verbilligung der Produktionsmittel immer noch wuchernden Berg an Veröffentlichungen heraushebt, muss dieser Song also eine alternative Verwertung finden.

Wirtschaftlich gesehen dient in diesem Fall der physische Tonträger oder die digitale Datei bzw. das damit verbundene Airplay primär der Wiedererkennung des mit dem Song beworbenen Produkts, dem direkten Product Placement oder der öffentlichen Präsenz der / des als "brand ambassador" verpflichteten Künstlerin / Künstlers.

Natürlich lässt sich auch über diesen Umweg noch der Geruch von Rebellion verhökern, schließlich hat Diesel (siehe diese alte Story) schon mit dem Slogan "Governments Will Hate You" um die StudentInnendemo-Generation geworben, bevor sie überhaupt auf die Straße gegangen war.

Aber niemand kann glaubhaft "Gimme Some Truth" singen und damit Freizeitkleidung, Limonade oder Software verkaufen.

Gerade in der mit solchen Spielchen nicht vereinbaren Selbstgerechtigkeit eines John Lennon oder Johnny Rotten oder Kurt Cobain lag auch deren Image-Kapital als Idealisten / Nihilisten (was im Endeffekt meist dasselbe ist), egal wie viel Profit die korrupte Musikindustrie und nicht zuletzt sie selbst aus ihrer konservierten Revolte schöpften.

Deshalb auch der Anflug medialer Pikiertheit, wenn Johnny Rotten heute Butter verkauft, während gleichzeitig eine Lady Gaga mit Applaus "ironisches" Product Placement betreiben darf, ohne dabei die Deutung ihrer sexistischen Selbstausbeutung als sexuelle Selbstermächtigung im Geringsten zu gefährden. Rotten kommt eben noch aus einer der Vorarbeit Lennons verpflichteten Generation, die eine absolute künstlerische Unbestechlichkeit für sich beanspruchte, welche ihrerseits durch Plattenverkäufe finanziert war.

John Lennon selbst hat diesen Status, dem er einst immerhin seine Laufbahn mit den Beatles opferte, jetzt auch posthum verloren. Mit Yoko Onos Billigung hat eine bekannte Füllfederfirma unter seinem Namen eine Gedenkedition edelster Federhalter herausgegeben.

Blick durchs Schaufenster auf Lennon-Füllfedern

Robert Rotifer

Imagine no possessions: Die 2200 bis 2500 Euro teure Lennon-Gedenk-Füllfeder, gesehen in Wien.

In der Zwischenzeit hat sich mein Kindheitstraum auf eine unvorhergesehene, etwas makabre Weise erfüllt: Überall in London schauen die jungen Gesichter der zur Hälfte verstorbenen Beatles in trauter Wiedervereinigung von gigantischen Plakatflächen herunter, um für den Musik-Download-Dienst einer Firma zu werben, die diesen auch bloß zur Promotion ihrer Computer und Telefone betreibt.

Imagine that.