Erstellt am: 8. 12. 2010 - 12:28 Uhr
Ein Arbeiterklassenheld zu sein
Schwierig. Mein Dilemma ist auch Johns Dilemma. Neben der besten Band der Welt, in deren unnachahmlichem Gefüge man allen vier Beatles noch die größten Dummheiten und Gemeinheiten als ewige Kunst durchgehen hat lassen, sieht sich ein Solowerk bei diesen schwerer Kritik ausgesetzt. Und John Lennons Leben und Werk ist voll von Halbgarem, Albernem, Gemeinem, Selbstgefälligem und schlicht Plattem - allem voran seine sogenannten "Hauptwerke": das dämliche "Imagine", die Pseudo-Naivität von "Mind Games" oder "Love", das unwürdige "Jealous Guy" und die hündischen Entschuldigungs-Liebeslieder an Yoko "Starting Over" und "Woman" auf der nahezu senilen "Double Fantasy". Dazu sein Machismo (er soll ja gesagt haben, er liebe Yoko, weil sie wie ein "Bloke in Drag" aussieht, vgl. auch das schlimme "Run for your Life"), das dekadente "Lost Weekend" mit der anderen Japanerin und das Inszenieren als im Geld schwimmender kiffender Hausmann usw. Als Punk-Sozialisierter lässt man einfach gewöhnlich kein gutes Haar an dem guten John. Wie Kollege Ostermayer auf die 60er Frage "Beatles oder Stones" (nachdem man Captain Beefheart u.ä. nicht gelten ließ) gerne antwortete: "Stones, die sind zwar Scheiße, aber immer noch besser als die verdammten Beatles".
Wieso ich es überhaupt wage, hier was anderes als "nisi bene" über den Jubilar zu verfassen? Weil sich doch eine handvoll Songs aus dem Lennon der Endsechziger und Siebziger rausschälen lassen, die sich echt lohnen. Und selbstredend einige der besten Beatles Songs, über die ich aber nichts mehr sagen muss.
Das ganze "Mixtape" mit den genannten Solo Songs und die besten Beatles Songs, die sicher auf John zurückgehen (diese Erkenntnisse verdanke ich John Lennon Experten Robert Rotifer, der sich trotz Schnupfens spät in der Nacht noch erbarmt hat und mir meine "was ist Paul, was ist John"- Fehleinschätzungen gerade gerückt hat. So durfte ich am 30. Todestag John Lennons nochmal die Beatles Schulbank drücken, danke dafür):
Lennon:
Instant Karma
God
Mother
Cold Turkey
Woman is the Nigger of the World
Working Class Hero
John Sinclair
Give Peace a Chance
Give me some Truth
Beatles:
Ticket to Ride
All You need is Love
Happiness is a Warm Gun
Tomorrow never knows
For the Benefit of Mr. Kite
Ballad of John and Yoko (mit Yoko an den Vocals, nein das ist Bungalow Bill, wie ich belehrt wurde))
I'm so Tired
Dear Prudence
Come Together
A Day in The Life
Norwegian Wood
In My Life
Revolution
Lucy in the Sky With Diamonds
Strawberry Fields Forever
Run for your Life (ja, auch der)
Instant Karma
Während Paul nach den Beatles seiner Lovely Linda zwei Klavierakkorde beibringt und mit ihr und einem bemitleidenswerten Domestiken namens Denny Laine ohne das Korrektiv Lennon / Beatles meines Erachtens für den Rest seines Lebens nur Kitsch produziert (man denke an Mull of Kintyre), scheint für Lennon das Ende der besten Band der Welt ein echter Befreiungsschlag gewesen zu sein. Noch während der Beatles-Zeit schreibt und spielt und er mit George und Freunden in einem Tag diese Perle von Song und macht so in der Endphase zwei beatleswürdige und doch andersgeartete Singles und ein gutes Album. Instant Karma markiert auf eine sehr für Lennon typische zynische Art das Ende der Yogi / Hippie / Beatles Periode und auch seine eigene "Lucy in The Sky" Acid Phase - und trotzdem: We all shine on!
God
Man kann John Lennon viel vorwerfen, aber nicht, kein aufrechter Atheist gewesen zu sein. Neben der besten Zeile des doofen Imagine ("Stellt euch vor es gäbe keinen Himmel" hat schon was) zählt er uns hier nochmal auf, an was er alles nicht gaubt: Gott, Beatles, Hitler, Kennedy, Buddha, Dylan, Yoga, Tarot usf. - Eigentlich alles außer ihm selbst (und Yoko) - er war das Walross, jetzt ist er wieder er selbst, der Traum ist aus.
Mother
Nachdem er sich in seinem weißgekalkten Landsitz mit Yoko und dem Urschrei-Therapeuten Arthur Yanov die Trauer um sein Waisenkinddasein aus dem Leib geschrien hat, schreibt er dieses unmittelbare und knochige Epos. Lennon ist verzweifelter, zorniger und brüllt besser als je wieder später.
Cold Turkey
Wegen seiner selbstgewählten Isolation nach 1975 und auch wegen des frühen Todes: Es gibt kaum Punk-freiere Musik als die von John Lennon, aber dieses Drogenepos lässt einen "Indie"-Sound vorahnen: Die minimale Gitarre haben Robert Quine und Chris Spedding sicher oft gehört, die düstere Stimmung könnte von Johny Thunders sein. Der dürre, brüllende Brite auf Entzug, das Gegenteil von Instant Karma.
Woman is the Nigger of the World
Als Agitpopper hatte Lennon ja zeitweise einen echten Auftrag und diese musikalisch dürftige Nummer ist (ganz Sloganpop) so verliebt in ihren eigenen Vergleich der Situation von Frauen und Schwarzen, dass sie diesen nichts als dauernd wiederholt ("think about it") und dabei - ihr merkt, darauf stehe ich am meisten - den WASP Lennon wieder zum sich steigernden Schreien veranlasst. Er ist gesanglich soweit von "Imagine" entfernt wie möglich und macht mit dieser nicht übertrieben originellen aber umso klareren Aussage das Duckmäusertum seines (viel besseren Songs) "Revolution" wett. Und auch das Schwanzraushängenlassen seines "Run for your Life" (auch ein toller Song, leider).
Working Class Hero
Noch ein großartiges Statement: Einfache Gitarre, simple Message: Wenn du aus der Arbeiterklasse kommst, kannst du es niemandem recht machen. Schon bei der Geburt wollen sie dich klein halten, geben dir keine Chance, wenn du zu klug bist, hassen sie dich, nachdem sie dich 20 Jahre gequält haben, sollst du auch noch Karriere machen, da erzählen sie dir dann, dass "da oben noch Platz sei" - Mit Fernsehen, Religion und Sex wollen sie dir einreden, du seist "classless". Und am Schluss: wenn du ein Held sein willst, folge mir. Der Arbeiterklassenheld bei den Beatles war John am wenigsten von allen (seine strenge Bildungsbürger-Tante wollte ihm den Kontakt zu Paul verbieten, weil der zu "Working Class" sei), aber der Titel dieser - vielleicht politischsten - Nummer klebt fortan an ihm wie der "Thin White Duke" an Bowie und hilft ihm womöglich dabei, dass die Leute vergessen, dass ihm die Dollars überall rausquellen, während er "Imagine no Possessions" singt.
John Sinclair
Noch mehr politics und für John Lennon Verhältnisse so konkret wie nie. John Sinclair war ein politischer Aktivist, Mastermind hinter den MC5, Gründer der "White Panther Party" und Aufrufer zu Kifferungehorsam, Tabubruch und Wehrdienstverweigerung - neben Jerry Rubin und Abbie Hofmann (mit denen John auch befreundet war) vielleicht der Hippie- Staatsfeind Nummer 1 in den US-Sixties. Wegen Besitz eines Joints, den er einem FBI "Con Man" abgekauft hatte, wurde Sinclair zu zehn Jahren Haft verurteilt: Die einfache, eindringliche Lennon-Message: "It ain't fair, John Sinclair". Und dass sie ihn freilassen sollen, wiederholt Lennon - wieder eindringlich schreiend - 15 Mal.
Der 30. Todestag von John Lennon
Imagine that.
Warum der letzte Rest der Relevanz von John Lennon in seiner heutigen Unvorstellbarkeit liegt. (Robert Rotifer)
A John in the City
Lokalaugenschein an den Tatorten The Dakota und Strawberry Fields - John Lennon Memorial im Central Park. (Christian Lehner)
Ein Arbeiterklassenheld zu sein
Das ist schon was. Ein John Lennon Mixtape zum 30. Todestag (Boris Jordan)
Come And Get It
Im Zuge der Beatles- und Lennon-Festspiele wurden auch eine Reihe Alben der Beatlesplattenfirma Apple neu aufgelegt. (David Pfister)
Give Peace a Chance
Hier hab ich eine Doppelbindung: Den Stakkatogesang, den Rauschebart, die Promi-Hippie-Aufnahmesession mit Timothy Leary im Flitterwochenbett und alle klatschen mit - ich hab das immer gemocht, auf eine ähnlich atavistische Weise, wie man in der Kindheit aufgeschnappte sinnfreie Beatles-Songs (wie etwa "All together now" oder "For the Benefit of Mr. Kite") wider besseren Wissens und intellektueller Reflexion immer mag. Weil ich "Imagine" nicht auf meiner Liste haben wollte, kommt eben das dran: Hier zeigt sich die Überzeugungskraft lennon'scher Widersprüche: Der reiche, verrückte Beatle mit seiner Künstlerfrau gibt sich radikal und ist aber ein Liberaler, er wirft ganz hippiemäßig alle "-ismen" und "-tionen" in einen Topf, er sagt nicht "Peace Now!" oder "Stop Ungerechtigkeit", er will dem "Frieden eine Chance geben", wie er schon die Revolution ablehnte, wenn sie "destruction" bedeute, oder später die Mutter der "Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin"-Messages kanonisieren sollte. Und am Schluss, als Krönung: Promis aufzählen. Ihr könnt es weglassen, ich werde in jedem Seminar dagegen reden, beim Hören im Geiste aber immer mitklatschen.
Give me some Truth
So wie "God" erzählt, an was er alles nicht glaubt, handelt Give me some truth von allen, die er verachtet. Es reicht diese aufzuzählen: spießige, kurzsichtige, engstirnige Heuchler - neurotische, psychotische, sture Politiker - kurzhaarige, feige Kinder von "Tricky Dicky" (gemeint ist Richard Nixon, noch vor dessen Kleinkrieg mit John) Mother Hubbards (nicht nur die Heldin aus einem nursery rhyme, sondern eine zensurfreundliche Umschreibung für "Motherfucker") - schmallippige, sich Müttern gegenüber herablassend verhaltende kleine Chauvinisten - schizophrene, egozentrische, paranoische Primadonnas. All diese Leute stehen der Wahrheit im Weg, und die ist alles, was er will.
Yer Blues
Der war schon auf dem Weißen Album, ist aber eine reine Lennon Nummer. Der einzige wirkliche Blues der Beatles. Auf einem Video aus dieser Zeit sind sie die eingeschworene, sich unbesiegbar genialisch ergänzende Freak-Truppe (inklusive Joint-Weitergeben), die sie in ihrer produktivsten Phase sicher waren, was den Autor Jonathan Lethem wohl dazu veranlasste, zu schreiben, jede soziale Entität ließe sich letzlich auf die Beatles reduzieren ("Responsible-parent, genius-parent, genius-child, clown-child... Spare parts are always surplus Georges or Ringos", J.Lethem, Fortress of Solitude). Und John in der Mitte ("Everything revolves around John, even Paul" - J. Lethem ebd.): depressiv, suizidal, einsam als alleingelassenes Kind ebenso, wie als berühmtester Mensch der Welt (dass die Beatles wirklich "bigger than Jesus" waren, weiß am besten Jesus Experte Ned Flanders, der deshalb sicherheitshalber ein "Beatles Zimmer" im Keller seines Hauses eingerichtet hatte), der sterben will vor Einsamkeit, wenn er nicht schon tot ist. Hier beginnen Lennons Songs auf radikale Weise von ihm selbst zu handeln, ein großer Schritt weg von "Please, Please me" zu "Oh Yoko".