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Andreas Spechtl

Ist Sänger der Band "Ja, Panik" und lebt in Berlin.

1. 1. 2011 - 07:55

Vom Überleben in der Metropole

I. Das Flanieren als Lebens-, Denk- und Liebesform.

„What are you working on exactly? I have no idea.“
„Reification,“ he answered.
„I see,“ Carole observed with admiration. „Serious work, at a huge desk cluttered with thick books and papers.“
„No,“ said Gilles. „I walk. Mainly I walk.“

(Michelle Bernstein, All The King´s Horses)

Ich möchte meine kleine Textserie mit einem Phänomen beginnen, das seinen Ursprung im Paris des 19. Jahrhundert hat. Ich denke es eignet sich ganz gut für den Anfang, fällt doch die Geburtsstunde des Flaneurs mit der der modernen Großstadt zusammen.
Außerdem werden diese Geschichten ohne ihn nicht auskommen können, ist er doch, allen Angriffen auf ihn und seine Umwelt zum trotz, einer der letzten wahrlich Überlebenden, denn er ist Nomade und Deserteur, also un(an)greifbar.

Überleben in der Metropole

Nach der französischen Revolution begannen die Menschen bekanntlich immer geschäftiger durch die Straßen zu rennen, die Konkurrenz kam ins Spiel, man lernte sich als Angestellter, Arbeitgeber, Schuldner oder Gläubiger neu kennen. Die Atomisierung hat eingesetzt und mit ihr das große Schweigen in der Welt. Jemand schreibt: „Vor der Entwicklung der Omnibusse, Eisenbahnen und Tramways im 19. Jahrhundert waren die Leute nicht in die Lage gekommen, lange Minuten oder gar Stunden sich gegenseitig ansehen zu müssen, ohne aneinander das Wort zu richten.“ Es beginnt also unheimlich zu werden. In der städtischen Masse der einander Unbekannten findet der Flaneur sein Zuhause, sein Asyl. Er ist Detektiv und Verbrecher zur selben Zeit, er folgt den Spuren der Stadt und verwischt dabei seine eigenen in der anonymen Menge.

Ein Mann wird in dem Maße verdächtiger als er schwerer aufzutreiben ist.

Die Zellen

Andreas Spechtl

Die Zellen

Diesen Ausfall von Spuren, den das Verschwinden der Menschen in den Massen der großen Stadt ausgelöst hat, kann sich die Ordnung, deren Feinde wir alle sind, natürlich nicht leisten und so war es, als Napoleon 1805 in Paris die Häuser erstmals durchnummerieren ließ, bis zum elektronischen Fingerabdruck eigentlich nur noch ein Katzensprung. Es wird den Namenlosen seither nicht leicht gemacht, man hat sie sukzessive aus den Straßen entfernt und diese im Laufe von zwei Jahrhunderten praktisch leer gefegt um sie zu bloßen Highways zu degradieren. Mittlerweile ist die Stadt von allem Leben gereinigt und wirkt nur noch wie ein schon lang geschlossener und halbverfallener Vergnügungspark, allein in den Touristengegenden zeugt noch ein blasser Hollywood Schimmer von anderen Zeiten. Ansonsten findet das Leben in Zellen statt die durch abgesteckte Routen miteinander verbunden sind. Und ich will diesen Satz im soziologischen wie architektonischen Sinne verstanden wissen. Damit auch ja keiner vom Weg abkommt oder sich verläuft wird man mit Navi, Google-Maps, Mobiltelefon und Psychiater ausgestattet. Es ist ein kluger Schachzug der Könige gerade in der ungeheuerlichen Menschenmasse der Großstadt die einsamsten und abgeschottetsten Individuen zu produzieren, die sich noch dazu ihres amputierten Ichs so seltsam sicher sind, dass sie es bereitwillig an jeder Ecke ausstellen, bewerten und registrieren lassen.

Das Vergnügen, in einer Menge sich zu befinden, ist ein geheimnisvoller Ausdruck für den Genuss an der Vervielfältigung der Zahl.

foto eines jungen mannes mit tattoo am arm

Andreas Spechtl

Noch eine Zelle

Verwischte der Flaneur der ersten Stunde noch seine Spuren in der Großstadtmenge, so muss es dem heute flanierenden Geist gelingen, sein Ich und all seine Leidenschaften an einer irrsinnigen Informations- und Überwachungsmaschinerie vorbei zu schleusen, aus der selten jemand nicht als fester und abgeschlossener Charakter, also als lebender Toter, wieder herauskommt. Der Meister des Flanierens trägt seine Persönlichkeit wie einen Mantel, er legt sie ab wenn er in die warme Stube kommt und besorgt sich eine neue, wenn sie verschlissen ist. Man könnte auch sagen, es geht nicht unbedingt darum sich kein Facebook-Profil anzulegen, sondern, wenn schon, dann mindestens zehn, für jede schizophrene Laune eines. Das ist natürlich viel zu kurz gegriffen, weist aber in all seiner Naivität trotzdem in die richtige Richtung.

Die Welt dürstet nach Liebe: DU stillst sie gewiss!

Konzepte für das Überleben in der Metropole: Mäntel

Andreas Spechtl

Was trage ich heute?

Sich für den Moment zu sensibilisieren, den man zu einer gewissen Zeit, in einem gewissen Raum, mit jemand gewissem teilt, also die Entschleunigung zuzulassen, heißt auch die Liebe für sich selbst neu zu definieren. Sich zu verlieben in das was er/sie wie in eben diesem Moment ist, ist die Antithese der romantischen Vorstellung von Liebe, die jede situative Leidenschaft für alle Ewigkeit ins Kellerverlies sperren möchte und die danach trachtet die Liebenden wie eine unheilbare Krankheit bis an ihr Lebensende aneinander zu binden. Diese nach wie vor alles bestimmende Form der Liebe bedeutet nichts anderes als der restlichen Welt ebendiese zu entziehen und endet deshalb ausnahmslos in Einsamkeit und Verbitterung, im Autismus zu zweit, wie andere sagen. Der Flaneur jedoch kann unter bestimmten Umständen, in gewissen Konstellationen, für jeden und alles Liebe empfinden. Er ist der einzig wahre Liebende in den letzten Tagen dieser alten Welt und allein er kann in ihr noch Liebe erfahren.

Apropos: noch 104 Tage bis DMD KIU LIDT