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Maria Motter Graz

Bücher, Bilder, Kritzeleien. Und die Menschen dazu.

5. 12. 2010 - 17:23

Der Freak in dir

The Tiger Lillies sind zurück in der Manege. Und sie haben ihre kleinen und bizarre Freunde mitgebracht. "The Tiger Lillies Freakshow" ist ein Schaukasten tiefer Melancholie.

Noch im heruntergekommensten Zustand beflügeln Coney Island und die wenigen verbliebenen Luna Parks dieser Welt die Phantasie. Den Tiger Lillies reicht nicht ein Spaziergang durch das verlassene Gelände wie "The Wrestler" Mickey Rourke, die Briten mit ausgeprägtem Hang zu bizarrem Cabaret und Falsettgesang trieben ihr Spiel schon in gesellschaftspolitischen Sperrgebieten. Für ihr aktuelles Unternehmen The Tiger Lillies' Freakshow buchen sie sich via Zirkusagentur eine Frau mit drei Herzen, Kleinwüchsige und Siamesische Zwillinge. Hinaus aus dem Wohnwagen, husch-husch, hinein ins Zirkuszelt.

„Albino dwarfs & dancing bears & midgets with full body hair“ war bereits vor zehn Jahren der Song "Freakshow" auf dem Album “Circus Songs” gewidmet. Nun haben The Tiger Lillies die Lyrics für eine eigene Bühnenproduktion leibhaftig in Szene gesetzt. Auf fünfzig historische bizarre Figuren kommt Martyn Jacques, würde er ein Lexikon der Freaks anlegen. Die Beschäftigung mit seltsamen Geschöpfen scheint bei ihm fortgeschritten. Die Schlangenfrau, der Mann mit Ganzkörperbehaarung und die Albino-Zwerge, Ugly Joe und Schwachköpfe - sie alle müssen ihren Kopf herhalten, um dem Publikum Daseins-Fragen in poetischer Inszenierung nahe zu bringen.

In Salzburg ist die „Freakshow“ von und mit The Tiger Lillies bis 6. Jänner 2011 beim Winterfest zu sehen.

Artist jongliert mit Hüten und kleine Menschen schauen zu

Bernhard Steiner

Komm näher, schöne Illusion

Die Grenze zwischen Sensation, Sensationsgier und Voyeurismus ist eine schmale. Im 19. Jahrhundert und auch noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts tingelten Menschen, die heute als „physically challenged“ bezeichnet werden würden, von Stadt zu Stadt, um ihr Auskommen auf Jahrmärkten und Kirtagen zu verdienen. Kleinwüchsige schlossen sich dem Zirkus an. Eine der grauenhaftesten und grausamsten Ausformungen der Schaulust waren die „Menschenzoos“. In europäischen Zoos wurden bis Ende der 1930er „wilde“ Menschen aus Kolonialländern wie Tiere vorgeführt und ausgestellt. "Lebende Eskimo" steht auf einem kleinen Schild auf einem der Zirkuswägen, die zwei kleinwüchsigen Menschen in der "Freakshow" zu Beginn über die Bühne ziehen.

Doch bei den Tiger Lillies ist die Freakshow-Welt noch in Ordnung. Die Artisten haben ihre besonderen Begabungen, und die Tiger Lillies haben ihre. So sieht Martyn Jacques die Dinge. Die zwei kleinen Menschen, die in der Freakshow tragende Rollen und charmante klassische Tanzeinlagen haben, fühlen sich nicht ausgebeutet. Viel mehr würden sie selbst ihre Erscheinung nützen, erklärt mir Kontrabassist Adrian Stout im Gespräch hinter den Kulissen.

Insgeheim ist die Kunst der Freakshow dann auch der Umgang mit der Präsentation der „Freaks“, die unaufgeregt das Konzept eines Absurditätenkabinetts unterwandert. Wie einst Gaukler zum Amüsement des Publikums oft gar keine "echten" Freaks waren, sich jedoch dementsprechend verkleidet und hergerichtet hatten, wird mit Tricks gearbeitet. Mit zu wenigen. So ringen etwa siamesische Zwillinge mit sich und der besseren Hälfte, kurzerhand schmerzlos erfolgt ihre Trennung.

Das, was Regisseur Sebastiano Toma für und mit den Tiger Lillies inszeniert, ist eine optisch sehr simpel gestrickte Zirkusnummern-Revue. Wer annimmt, dass nach den ersten 45 Minuten die Pause für einen Umbau auf der Bühne genützt wird, irrt. Die kleinen Wohnwägen mit ihren erleuchteten Fenstern und ein überdimensionaler Schaukasten müssen als Kulisse reichen.

Und doch kippt man in dieses altmodische, im besten Sinne harmlose Spektakel. Obwohl auf der Bühne (noch) niemand abhebt, fliegen die Minuten. Schaurig ist die Freakshow in keiner Sekunde, sondern tief melancholisch und etappenweise traurig. Das Elend der Welt könnte man für ein am Stand scharrendes Zirkuspony satteln. Doch Tiere lassen die Tiger Lillies physisch zum Glück im Salzburger Volksgarten vor dem großen Zelt. In den Songs darf ein dreibeiniger Hund aber mehr als bellen: "The three-legged dog will bite your leg off and spit it out when he coughs".

Frau mit angeblich längsten Haaren und Tiger Lillies-Sänger auf Bühne

Bernhard Steiner

You're on the outside, your'e looking in

Ein Jahrzehnt nach "Circus" sind die Tiger Lillies zurück in der Manege, und Martyn Jacques trägt mit Begeisterung schwarz-weiße Schminke im Gesicht. Inspiriert ist das Programm von Katherine Dunns Roman „Geek Love“ und Todd Brownings Film „The Freaks“. Jacques' Faszination für die dunkeln Winkel und schlecht beleuchteten Gassen des Lebens hat den Tiger Lillies einen Ruf als gar skandalöse Liedermacher eingebracht (meistzitiertes Reizwort: Sex mit Schafen, den Jacques auch schon besungen hat). Ausschauen tut das Ganze ungleich bieder.

Das kleine Paar tanzt und Martyn Jacques zieht mit seinem kleinen Akkordeon einen Bogen. Die Schlangenfrau räkelt sich, Jacques singt. Erstochene Jungfrauen mit Messern in den Bäuchen trippeln als viktorianisches Dreimäderlhaus umher, Adrian Stout wird durch Visagistenhand zum Schlangenbeschwörer und lässt das Theremin singen. Klar, der Einsatz der Ätherwellengeige, die ohne Berührung erklingt, ist Pflicht in diesem Zirkusprogramm. Die Kür sind - wieder einmal - die Texte. Und auf die ist die gesamte Inszenierung bis auf das akrobatische Ende in luftigen Höhen zugeschnitten.

Freaks und Geeks, niedliche Kreaturen - Seltsamkeiten schlummern in jedem. Die Freakshow thematisiert Außenseitertum, Einsamkeit und Entfremdung. "Now you’re getting fatter the fat on you does grow, you're getting bigger every year until your heart does go." Das betrifft auch den Juristen oder die Hausfrau und Mutter im Publikum. Anders-Sein ist keineswegs auf körperliche Merkmale beschränkt. "You on the outside you’re looking in, is it all evil is it all sin?"

Mit ihren melancholisch-schönen Songs und ihren befreundeten Freaks kehren The Tiger Lillies am 15. März 2011 nach Österreich zurück: im Wiener Gasometer wird die Freakshow sechs Mal zu sehen sein.

Kleine und große Tänzerin und Kontrabassist der Tiger Lillies auf der Bühne

Bernhard Steiner

Adrian Stout, optisch ein Schlangenbeschwörer, steht wie Schlagzeuger Adrian Huge dezent am Rande des Geschehens.

Zwanzig Songs, melancholisch-schöne Balladen mit Falsettgesang und beschwingtere Dreivierteltakter mit Klatschappeal, fassen die Tiger Lillies in ihre jüngste Konzeptarbeit. Inklusive Silvesterabend gastiert das britische Trio damit 36 Mal in Salzburg.

Für 2011 hat die Band gleich zwei neue Alben in Vorbereitung: "The Ancient Mariner" und "The Ballade of Sexual Dependency", das als Livevertonung fünfzig Minuten Musik zur gleichnamigen, 700 Bilder starken Fotoserie der amerikanischen Künstlerin Nan Goldin lieferte. Das klingt sehenswert.