Erstellt am: 3. 12. 2010 - 18:38 Uhr
Sexuelle Welten
Sexualität zeigt sich in verschiedensten Ausdrucksformen. In den letzten Jahrzehnten kam es zu deutlichen gesellschaftlichen Veränderungen im Hinblick auf Partnerschaften, Familienformen und Sexualmoral.
Wo sich Klischees und Zerrbilder von den präzisen Forschungsergebnissen unterscheiden, zeigen in Wien derzeit Wissenschafter wie der aus Leipzig stammende Professor Dr. Kurt Starke. Titel seines Vortrages: "Zwischen Frustration und Lebenselexier: Glücksfaktoren der Sexualität." Der Forscher widerlegt anhand von Daten etwa die weit verbreitete Behauptung von der angeblichen sexuellen Verwahrlosung Jugendlicher (an der, wenn man reißerischen Medien glaubt, meistens die Internetpornographie schuld ist). Überhaupt widerlegt der Forscher ein Klischee nach dem anderen. Als Motivation für den Sex führen die meisten Befragten in Deutschland "Der geliebten Person nah sein" an, weit vor allen anderen Gründen. Starke legt Daten vor, nach denen Pensionisten in Beziehungen mehr Sex haben als Dreißigjährige ohne feste PartnerInnen Viel Zahlenmaterial, 160 Powerpoint-Folien innerhalb einer Stunde - und trotzdem spannend.
Courage
"Schämen sie sich nicht?" nennt die Autorin und Co-Präsidentin der ÖGS Gerti Senger ihren Vortrag, Untertitel: "Von der sexuellen Revolution bis heute". Tatsächlich hat Senger eine langsame, schwierige Entwicklung erlebt. Seit den späten sechziger Jahren schrieb sie Bücher, Zeitungskolumnen und Zeitschriftenartikel über Sexualität, wurde dafür belächelt oder auch wüst beschimpft, immer aber auch mit abertausenden ernsthaften Anfragen überschwemmt. Ein Versuch, in den siebziger Jahren eine ORF-Fernsehsendung einzuführen, wurde vom damaligen Generalintendanten Gerd Bacher zurückgewiesen: "Ich kann meine Antwort auf den Satz reduzieren, dass wir die Sache nicht machen wollen." Senger: "Es war diesbezüglich nichts zu machen. 1987 aber hat es jemanden gegeben, der sich getraut hat, wenigstens im Rundfunk etwas zu tun: Das war Walter Gröbchen. Er war bei Ö3, hat mich angerufen und gesagt: Weißt was, der Chefredakteur ist nicht da, wir probieren etwas, das nicht angekündigt ist. Es ist eh um Mitternacht. Du kommst ins Studio, die Leute können anrufen und Fragen stellen und du beantwortest das live. Wenn niemand anruft, dann ist da der Moderator, der hat an guten Schmäh, wir machen Musik und er unterhält sich mit dir. Es waren unglaublich viele Anrufe. Und keine Verarschungsanrufe. Es haben Menschen angerufen, die ernsthaft ein Anliegen hatten und ihr Problem schildern wollten. Ein Erfolg auf Anhieb."
ÖGS
Mit der gut besetzten Fachtagung "Sexuelle Welten – Vielfalt Leben" begehen zwei Organisationen einen Doppelgeburtstag: Die Österreichische Gesellschaft für Sexualforschung (ÖGS) wird dreißig Jahre alt, die Beratungsstelle Courage feiert ihr zehnjähriges Bestehen. Johannes Wahala, Courage-Gründer und Organisator der Fachtagung: "In zehn Jahren haben wir 12.000 Menschen in 26.000 Beratungen unterstützt und begleitet. Die Schwerpunkte von Courage waren am Anfang gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen, es hat sich aber immer mehr auch gezeigt, dass sehr viele heterosexuell orientierte Menschen den Weg zu uns finden. Heute kann man sagen, wir sind eine Beratungsstelle für alle sexuelle Orientierungen. Aber auch für alle geschlechtlichen Identitäten – eine Thema, das uns gerade sehr beschäftigt. Denn wir haben sehr viele Anfragen, sehr viele KlientInnen, deren Thema die Transidentität ist. Wir haben eine Gruppe für junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren mit Transgenderthemen gegründet. Die Gruppe war auf Anhieb mit 16 Jugendlichen voll und ist heute sehr quirlig und lebendig. Eine Gruppe, wo manche sehr froh sind, dass sie endlich über das reden dürfen, was sie innerlich erleben und darüber mit anderen jungen Menschen in Austausch treten können."
Im Talk "Bisexuelle Omnipotenz als Leitkultur?" hinterfragt die Psycholgin Dr. Sophinette Becker den Diskurs über die sexuellen Verhältnisse: "Was für die einen die Freiheit der Wahl ist, scheint den anderen Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit. Was für die einen die Befreiung der Sexualität ist, ist für die anderen die Befreiung von der Sexualität." Gekonnt stellt Becker die tatsächlich gelebten Sexualnormen und gesellschaftlichen Veränderungen dar. Helmut Graupner spricht über sexuelle Selbstbestimmung als Menschenrecht, das auch 200 Jahre nach der Proklamierung der Menschenrechte in Österreich missachtet wird.
Die Fachtagung Sexuelle Welten - Vielfalt leben findet im Vortragssaal der AK Wien, Theresianumgasse 18, statt.
Auch am Samstag, 4. Dezember, wird ab 9 Uhr früh weiter diskutiert und präsentiert. Höhepunkt ist etwa Dr. Franz Eders Vergleich sexueller Kulturen in Europa, den USA, Russland, China und Indien. Oder Sabine Strassers Vortrag "Multikulturalismus queer gelesen. Sexuelle Autonomie, kulturelle Diversität und gesellschaftliche Spannungen."
Wer nach elf Stunden Fachtagung dann noch Energie hat, kann mit Courage und ÖGS den Doppelgeburtstag feiern: Ab 22 Uhr im OST-Klub, Schwarzenbergplatz 10, 1040 Wien.