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Markus Keuschnigg

Aus der Welt der Filmfestivals: Von Kino-Buffets und dunklen Sälen.

4. 12. 2010 - 12:36

Tentakeltod

Die argentinische Literatenszene hat in Carlos Busqued einen neuen Star gefunden. "Unter dieser furchterregenden Sonne" heißt das Romandebüt des Radioproduzenten. Darin erzählt er von der Höllenfahrt eines Slackers, die ihn in seine eigene Vergangenheit führt.

Then once by man and angels to be seen,
In roaring he shall rise and on the surface die.

Buchcover

Kunstmann Verlag

Carlos Busqued: Unter dieser furchterregenden Sonne ist im Kunstmann Verlag erschienen. Übersetzung aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.

Zwei Zeilen stehen diesem Roman voran. Zwei Zeilen aus Alfred Tennysons naturmythischem Gedicht "The Kraken". Das Wissen um ein Monstrum unter der beruhigten Oberfläche, das irgendwann auftauchen und alles verschlingen wird, das schlummert auch zwischen den Seiten von "Unter dieser furchterregenden Sonne". Gleich auf der ersten Seite hockt Slacker Cetarti eingeraucht im Wohnzimmer: im Fernsehen läuft eine Dokumentation über kannibalische Riesenkraken, über den Glanz ihrer in der Tiefsee phosphoreszierenden Augen. Ein Anruf reißt Cetarti aus seiner Lethargie: seine Mutter und sein Bruder sind erschossen worden, er soll in die nordargentinische Provinz Chaco reisen, um die sterberechtlichen Angelegenheiten zu regeln.

Er ließ das Wagenfenster runter, um das Auto etwas durchzulüften. Der Geruch von Scheiße schlug ihm ins Gesicht, also schloss er das Fenster wieder. Er fuhr ein paar Runden, gewissermaßen zum Kennenlernen. Er sah nichts Nettes, bei fast allen Häusern und Gebäuden blätterte die Farbe ab, und an vielen Wänden sah man Salpeterflecken und ziemlich breite Risse, Folge des unregelmäßigen Absackens der Bauten. Der optische Eindruck war trostlos.

Weitere Buchrezensionen:

Ein steigender Grundwasserspiegel lässt die Gegend im modrigen Schlamm versinken, die Vergangenheit frisst die Kinder der Gegenwart: Carlos Busqued findet so poetische wie konkrete Sprachbilder für die Krankheiten des zeitgenössischen Argentiniens. Die Militärdiktatur wirft lange Schatten, während die Sonne ungnädig vom Himmel brennt und die Menschen in den Wahnsinn treibt.

Im Sumpf der Gegenwart

Carlos Busqued

Leandro Aguirre

Carlos Busqued

Carlos Busqued ist einer der prononciertesten und fantasievollsten Gegenwartsbeobachter Argentiniens. Auf seinem Blog Borderline Carlito schreibt er über alles, was ihn beschäftigt, von Frank Zappa über welt- und innenpolitische Reizthemen hin zu Comics. Chaco, die Heimat des Autors, ist angefüllt mit brachialen Charakteren wie dem Testamentsvollstrecker mit einer Neigung zu Gewaltpornos, der in seiner Freizeit Menschen entführt und foltert.

Der Typ, der die Faust im Arsch der Alten hatte, holte sie heraus und zeigte sie triumphierend in die Kamera. Der Arsch stand offen, ohne jede Anmut, ein riesiges Fleischloch, das die Sicht freigab auf das Ende des Verdauungsapparats. Andere Kerle hielten das Loch mit gespreizten Fingern offen und spuckten hinein.

"Unter dieser furchterregenden Sonne" ist ein gemeiner Roman: ohne positive Figuren, ohne hoffnungsvollen Ausblick tragen einen die entschlackten Sätze im protokollarischen Stakkato durch das Elend. Carlos Busqued gelingt damit ein eindrucksvolles, wenngleich dramaturgisch ineffizientes Debüt: die kleine Geschichte einer großen Welt, die im Schlamm versinkt - und vom Kraken gefressen wird, der dort auf sie wartet.