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Martin Pieper

radio FM4

Martin Pieper

Ist Moderator und Chefredakteur von seinem Lieblingssender. Hat sein Hobby zum Beruf gemacht.

7. 12. 2010 - 14:55

Der Hauslehrer

Wie ein Junge zu Tode "erzogen" wurde: Michael Hagners Buch über einen Kriminalfall des frühen 20. Jahrhunderts, der die dunklen Seiten der Pädagogik, der Sexualwissenschaften, der Justiz und der Medien berührt.

"Faulheit, mangelnde Motivation, Müßiggang, Unzuverlässigkeit und geistige Trägheit", so lautete das Urteil über den 13-jährigen Heinz Koch und seinen 11-jährigen Bruder Joachim. Wir schreiben das Jahr 1902 und die Eltern, ein wohlhabendes Bankiers-Ehepaar, machen sich auf die Suche nach einem Hauslehrer, der den beiden Buben endlich zum Einstieg ins Gymnasium verhelfen soll.

Sie finden den 23-jährigen Jura-Studenten Andreas Dippold, der schon ein paar Jahre später im Gefängnis sitzen wird, weil der ältere der beiden Söhne durch die Erziehungsmaßnahmen des Hauslehrers zu Tode gekommen ist. Der Name des Lehrers geht in die damals zeitgenössische Sexualpathologie ein: "Dippoldismus" bezeichnete in einschlägigen Nachschlagewerken den Sadismus des Erziehers.

Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner hat aus Fall Dippold ein packendes Buch gemacht, für das er akribisch genau Dokumente, Briefwechsel, Gerichtsakten, Zeitungsmeldungen und wissenschaftliche Texte durchforstet hat. Dabei geht es dem Autor nicht nur um eine möglichst faktentreue Schilderung der ungeheuerlichen Vorgänge, die sich da innerhalb eines Jahres abgespielt haben, sondern vor allem um die Konstruktion des "Falls" im Windschatten der Tragödie durch die Skandalpresse der damaligen Zeit, durch die Justiz und die gerade aufblühende Psychiatrie und Sexualkunde.

cover des buches der hauslehrer: ein mann mit schwarzen bart, vermutlich dippold, einmal von vorne und einmal von der seite fotografiert, die augen durch einen roten balken verdeckt.

Suhrkamp verlag

Michael Hagner: Der Hauslehrer - Die Geschichte eines Kriminalfalls
Erschienen im Suhrkamp Verlag

Tödliche Maßnahmen gegen den "irren Trieb"

Die erste Hälfte des Buches ist eine erschütternde Reise in das finstere Herz der sogenannten "schwarzen Pädagogik", Stimmung und Zeitkolorit erinnern gelegentlich an Michael Hanekes Film "Das weiße Band". Der stets sachliche Stil, das zurückhaltende Urteil des Autors, die Vorsicht, mit der er seine historischen Quellen beurteilt, stehen im krassen Gegensatz zu den geschilderten Ereignissen.

Die Briefe, die zwischen der Mutter, deren Stellung in der Familie mit der Aufgabe der Kindererziehung zementiert ist, und dem jungen ambitionierten Hauslehrer hin- und hergehen, offenbaren eine ausweglose Situation. Die strengen gesellschaftlichen und erzieherischen Konventionen der Jahrhundertwende, ökonomische Zwänge, halbverdaute pädagogische Neuerungen ("Reformpädagogik") und emotionale Kälte ergeben eine tödliche Mischung, aus der es für die beiden Opfer bald keine Ausweichmöglichkeit mehr gibt.

Vor allem die eingebildete oder tatsächlich stattfindende Onanie ist für den Hauslehrer Dippold die Ursache allen Übels, das zunächst durch ein Umzug der Kinder aus dem "verderbten" Berlin und damit auch aus dem unmittelbaren Einflussbereich der leiblichen Mutter auf das Land beseitigt werden soll. Die obsessive Beschäftigung von Ärzten, Lehrern, Priestern und Wissenschaftlern der damaligen Zeit mit der Masturbation könnte man aus heutiger Sicht als lustige historische Absurdität betrachten, die Pathologisierung und Zurichtungen, denen die jugendlichen Opfer ausgesetzt waren, und die hier in all ihrem schrecklichen Konsequenz dokumentiert werden, sprechen aber eine andere Sprache.

Und das ist erst der Anfang

Autor Michael Hagner begnügt sich aber keineswegs mit der Aufarbeitung des chronikalen Ereignisses. Spätestens mit der Schilderung des Prozesses gegen den Hauslehrer Dippold entzieht Michael Hagner dem Leser, der Leserin nach und nach die letzten Sicherheiten, indem er die Widersprüche zwischen medialer Skandalisierung, den Verhörprotokollen, den psychologischen Gutachten, den zahllosen Einschätzungen und Einmischungen von diversen Humanwissenschaftlern und den erhaltenen Selbstzeugnissen der Beteiligten bis ins Detail ausleuchtet.

Die Urteile, die man bei der Lektüre fällt, geraten ins Wanken, der Komplex aus Justiz, Wissenschaft und Medien erzeugt eine neue Realität, den "Fall Dippold". Es schadet nicht, wenn man vor der Lektüre zumindest den Wikipedia Eintrag zum Philosophen Michel Foucault überflogen hat.

Michel Foucault in der Wikipedia

Foucault hat den den Diskurs über die Psychiatrie und Justiz als Herrschaftsinstrument mit seinem zentralen Werk "Überwachen und Strafen" entscheidend geprägt, und das hallt in Michael Hagners Text nach, auch wenn der Autor durchaus am Sockel des Gottseibeiuns der modernen französischen Philosophie kratzt und dessen Faszination für den Mörder Pierre Rivière in Frage stellt.

Dass "Der Hauslehrer" trotzdem auch für Nichtwissenschafler ausgesprochen spannend und lesbar bleibt, ist der klaren, nüchternen Sprache von Michael Hagner zu verdanken, der stets mehr Fragen stellt, als direkte Antworten zu geben.

"Der Hauslehrer" lässt sich aber auch als Kommentar zur medialen Berichterstattung und den Strategien von wissenschaftlichen Experten rund um das Thema Kindesmissbrauch lesen. Auch die spektakulären Kriminalfälle wie Kampusch oder Josef F. und ihr Nachwirken in der Boulvardpresse kommen einem bei der Lektüre in den Sinn. So mancher Artikel in der damaligen Presse über die "Bestie Dippold" klingt nicht wesentlich anders als die aktuellen Geschichten in den diversen bunten Gratis- oder fast Gratisblättern. Michael Hagner fordert an einer Stelle eine historisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Skandal und seinen Bedingungen. Einen Anfang hat er mit "Der Hauslehrer" gemacht.