Erstellt am: 2. 12. 2010 - 18:42 Uhr
Merhaba Türkiye!
Aus Milch wird Süt
Wieder einmal gehen die österreichischen Uhren ein bisschen langsamer als in New York, Paris oder Berlin, auf ewig kann sich aber auch der heimische Trachtenrhythmus nicht dem Tempo der globalisierten Welt verschließen.
Während von einigen beamteten Status-Quo-Bewahrern noch immer verleugnet wird, dass Österreich ein Einwanderungsland ist (ganz analog zur Haltung der katholischen Kirche zum heliozentrischen Weltbild zur Zeit Galileis) funktioniert die Markwirtschaft tatsächlich manchmal besser als der Staat.
Das will in Zeiten der pyramidenspiel-ähnlichen Finanzmärkte schon was heißen. Denn: Auch wenn der Aberglaube an die unsichtbare Hand von Angebot und Nachfrage längst widerlegt ist, hier hat er ausnahmsweise funktioniert.
Rund 20 Milliarden Euro beträgt laut einer aktuellen Studie die Kaufkraft der österreichischen MigrantInnen, das entspricht ganz grob etwa der Kaufkraft der Bevölkerung der Steiermark. Insofern war es tatsächlich nur eine Frage der Zeit, bis die ersten Player beginnen würden, in dieser Gruppe massiv zu werben.
Merhaba Türkiye
Die Mobilfunkbranche zählt zu den Pionieren des sogenannten „Ethno-Marketing“, oder genauer „Diversity-Marketing“ etwa mit speziell auf türkische MitbürgerInnen zugeschnittenen Handy-Tarifen, mit denen man billig in die Türkei telefonieren kann.
Aber auch im Lebensmittel-Handel oder im Bankenbereich entdeckt man diese neuen Marketing-Tools, so bietet etwa die Raiffeisen Landesbank für Wien spezifisches "Ethno-Banking" an. Das geht bis hin zu Krediten für türkische Hochzeiten, wo ein Saal für hunderte Gäste und ein türkischer Juwelier gleich pauschal inkludiert sind.
Brainworker Community Marketing
Werner Schediwy, der Marketing-Chef der Bank, hat bislang nur positive Erfahrungen mit dieser relativ neuen Strategie gemacht:
"Wir haben uns mit acht Filialen in Wien auf diese Gruppe spezialisiert, wir haben auch zahlreiche Mitarbeiter mit Migrationshintergrund unterschiedlicher Herkunft, wir trainieren auch die Sensibilität in Verkaufsgesprächen um empathischer mit den Kunden umgehen zu können. Mittlerweile sind wir soweit, dass wir sogar schon unser erstes Fastenbrechen mit unseren Kunden gemacht haben. Ich würde sogar sagen: 60% macht der wertorientierte Zugang aus, der Rest ist wirtschaftliches Interesse. Wenn man eine Bank für diese Stadt ist, kann man das auch nicht trennen. Negative Erfahrungen haben wir kaum gemacht, das Integrative fängt bei unseren eigenen Mitarbeitern an, und wenn man als Kunde die Erfahrung macht, dass alle dahinter stehen, gibt es auch keine Probleme."
Diversity Marketing
Brainworker Community Marketing
Beraten wird die Raiffeisen Landesbank bei ihren Diversity-Marketing Strategien von der Wiener Agentur „Brainwoker“.
Deren Gründer, der halb türkisch-stämmige Manuel Bräuhofer, meint ebenfalls, dass auch hierzulande nun endlich Bewegung in die Sache kommt.
Mit seiner Agentur betreut er neben der Raiffeisen Landesbank auch etwa die Marketing Linie von IBM für das schwul-lesbische Kundensegment, in der ganzen Vielfalt ist das dann eben „Diversity-Marketing“. Speziell beim Werben im migrantischen Umfeld sei es aber extrem wichtig, die kulturellen Rahmenbedingungen zu beachten, so Bräuhofer.
"Ethno-Marketing ist eine Strategie wie jede andere. Man muss auf die Zielgruppe achten und sich die Do's und Dont's vor Augen führen. Auch die Gruppe der MigrantInnen ist keinesfalls homogen, und man muss vor allem auf die kulturellen Bedürfnisse Rücksicht nehmen. Es macht wenig Sinn, mit blonden und blauäugigen Menschen um die Gunst der türkischen Bevölkerung zu werben, oder eben klassische westliche Familienbilder zu verwenden. Ein besonders kontraproduktives Beispiel wäre es, Kondome für junge, weibliche Muslime zu vertreiben, das geht garantiert nach hinten los."
Ebenfalls kontraproduktiv ist reine Übersetzungsarbeit.
Manuel Bräuhofer ist zwar absolut kein Freund von Pauschal-Diagnosen und stereotypen Klischees, trotzdem lassen sich gewisse Besonderheiten feststellen.
"Unter anderem kann man eine starke Markentreue und Weiterempfehlungsbereitschaft beobachten, die ist knapp zehnmal höher als bei Westeuropäern. Wer etwas gut findet und mag, erzählt das auch weiter."
Aus Süt wird Milch
Dennoch ist die Strategie des "Ethno-Marketing" manchmal brisant. Diese Erfahrung machte auch die niederösterreichische Molkerei NÖM, als sich im Sommer dieses Jahres eine für einen türkischen Supermarkt bestimmte Charge Milch mit der türkischen Aufschrift "Süt" in den "normalen" Handel verirrte.
Wie so oft zitterten die Bewahrer der Leitkultur daraufhin um das Abendland und sahen die Milch vor lauter Kühen nicht mehr. Für den Generaldirektor der NÖM, Alfred Berger, eine völlig überzogene Empörung. Die Packungen waren für türkische Supermärkte bestimmt und priesen in türkischer Sprache die Qualität niederösterreichischer Milch, wirtschaftlich durchaus erfolgreich.
Auch dieser Sturm im Milchglas hat sich inzwischen gelegt, künftig muss auf allen Packungen auch das deutsche Wort "Milch" stehen, am Erfolgskonzept des "Ethno-Marketing" wird das wenig ändern.
Wir stehen also erst ganz am Anfang einer Entwicklung, die die Werbelandschaft nachhaltig verändern wird, davon ist auch Manuel Bräuhofer überzeugt. "Ich hoffe, dass in zehn Jahren mein Job überflüssig sein wird, weil alle vielfältig kommunizieren. Wenn ich realistisch bin, wird es wohl aber in den nächsten 30-50 Jahren auch nicht passieren, weil dann wieder neue Zielgruppen dazukommen. Aber ja, ich glaube, dass wahrscheinlich in 10, 20 Jahren Iglo Halal-Food anbieten und Eskimo Eis mit türkischen Namen vertreiben wird. Das wird kommen."