Erstellt am: 11. 12. 2010 - 13:59 Uhr
Das traurige Sterben in der Oberschicht
"Seit man mir gesagt hat, dass ich noch sechs Monate zu leben habe, fahre ich vorsichtiger."
Dumont
Charlie Fairburn, erfolgreicher Drehbuchautor und nachlässiger Vater einer Tochter, nimmt die Nachricht seines baldigen Todes erstaunlich gelassen auf. Ein halbes Jahr bleibe ihm noch, meint der Arzt. Charlie denkt kurz an Selbstmord, das ist ihm aber doch zu anstrengend. Was fängt man also an mit der verbleibenden Zeit? Charlies Umfeld übernimmt vorerst die Planung: Sein Arzt verschreibt ihm ein Antidepressivum ("Hat doch keinen Sinn auch noch depressiv zu werden!"), seine Freundin rät ihm endlich einen Roman zu schreiben. Am besten über das Sterben. Charlie verbringt jedoch vorerst seine Zeit damit, sich geschmackvolle Formeln zurechtzulegen, um Beileidsbekundungen aus dem Weg zu gehen, wie etwa: "In letzter Zeit habe ich nur die ganz späten Quartette gehört."
Um den weiteren Handlungsverlauf zu verstehen, muss man sich in Charlie hinein versetzen. Sein größter Drehbucherfolg heißt "Ein Alien zum Verlieben" und ist genauso künstlerisch wertvoll wie "Jackass". Aber der Film hat ihn wohlhabend gemacht: Mehr als 35 Millionen Menschen haben ihn im Kino gesehen. In den letzten Monaten seines Lebens möchte Charlie nun allerdings etwas Bedeutsames schreiben, ein Roman soll es werden, wie die Freundin es vorgeschlagen hat. Aber in Charlies Augen braucht ein wahrer Künstler mehr als nur die Muse und die Todeserfahrung. Ein Künstler muss ohne Hoffnung, finanziell am Ende und am besten einsam sein. Im Angesicht des Todes beschließt Charlie also all sein Hab und Gut zu verkaufen: Die Villa in Los Angeles, die drei Autos und die Yacht in Palm Beach. Mit mehreren Milliarden Dollar am Konto will Charlie nun in den letzten Monaten seines Lebens zum armen Schlucker und richtigen Künstler reifen: Er will sein gesamtes Geld im Casino verzocken.
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Unglück um jeden Preis
Auf der Straße will Charlie nicht leben, also wohnt er von nun an nur noch in Hotels. Unter anderem auch in Monte Carlo, wo man in den Casinos sein Geld sicher an den Spieltischen verlieren kann. Blöd nur, dass Charlie immer und immer wieder am Roulette-Tisch gewinnt. Nach der ersten Nacht in Monaco hat Charlie seinen Reichtum verdreifacht. So wird das nie was mit dem Roman über das Bewusstsein und den Tod, den sein Agent so schön umschreibt: "Bewusstsein trifft Bewusstsein, sie vereinigen sich zum Überbewusstsein und leben bewusst bis an ihr Lebensende".
Zum Glück trifft Charlie in Monte Carlo auf Angélique, die der Spielsucht verfallen ist. Während sie nun Tag für Tag seine Millionen verspielt, schreibt Charlie weiter an seinem Roman über Bewusstsein und Tod. Irgendwie hat das Ganze etwas von Prostitution, denn Charlie findet immer mehr Gefallen an der Dame, die aber nur bei ihm bleibt, solange Charlie noch Geld hat. Aber gerade das will er loswerden. Dummerweise sieht sein Plan auch vor, dass er vereinsamt als großer Künstler stirbt. Bis Charlie allerdings eines Tages eine Nachricht von seinem Arzt erhält, die alles verändert.
Simon Tyszko
Sterben um jeden Preis
Wem der Plot von "Ausweg" des britischen Autors Edward St Aubyn in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise allzu absurd und unrealistisch vorkommt, darf sich nicht wundern. St Aubyns Werke sind Teil eines persönlichen Verarbeitungsprozesses über das Leben in der britischen Upper Class. St Aubyn: Der Name klingt blaublütig und ist es auch. Die St Aubyns sind eine der bekanntesten Familien des britischen Hochadels und mit Reichtum gesegnet. Trotzdem durchlebt der kleine Edward eine grauenhafte Kindheit: Vom Vater misshandelt und sexuell missbraucht, wird er in Internate abgeschoben und drogenabhängig. Mit seinen Welterfolgen "Mother's Milk", "Never Mind" und "Some Hope" legt St Aubyn als Schriftsteller eine autobiografische Trilogie seines Leidens in Form einer bittersüßen Gesellschaftskritik der britischen Oberklasse vor und verarbeitet auf diese Weise auch sein eigenes Schicksal.
"Ausweg" (im Original "A Clue to the Exit") ist dabei nur ein Nebenwerk, das bereits im Jahr 2000 erscheint. Das Selbstexperiment, durch Armut und Einsamkeit kurz vor dem Tod zu wahrem Künstlertum zu gelangen, hat an sich schon etwas Gekünsteltes. Der Roman ist gespickt mit zynischen und sarkastischen Aussagen über die letzen Monate auf Erden. Charlie ist ein reicher Drehbuchautor, der es sich leisten kann, seine eigenen Ängste hinter einer emotionalen Firewall voller Sarkasmus zu verstecken. Der Roman, den er schreiben will, ist von Beginn an eine Totgeburt: Irgendeine philosophische Hirnwichserei, die aber auch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass der Tod für alle Schichten gleich ist. In diesem Sinne ist "Ausweg" eine Art umgedrehter Bildungsroman: Während in diesem der Protagonist innerlich reift und an sich wächst, will Charlie hier nur abbauen.
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"Ausweg" handelt daher eigentlich nicht vom Sterben. Und schon gar nicht vom richtigen Leben, denn soziale Bindungen wie zur Familie kommen nur am Rande vor. Immerhin hat Charlie eine Tochter, die aber im Roman lediglich zweimal erwähnt wird. Emotionale Achterbahnfahrten und Nachdenken über die eigene Existenz wie in "Six Feet Under" darf man sich also nicht erwarten. Der Tod dient hier lediglich als Kulisse für das viel zu panische Umdenken eines gelangweilten Millionärs, der weder an seinem Leben noch an seinem Umfeld zu hängen scheint.
"Ausweg" ist bei weitem nicht das beste Werk von St Aubyn. Aber die Teerspur des schwarzen Humors ist in diesem Roman extrem dickflüssig und ein paar Todgeweihte unter uns werden sicher auf ihr ausrutschen.