Erstellt am: 30. 11. 2010 - 18:36 Uhr
Die fabelhafte Welt des Yann Tiersen
Der erste Schnee knirscht unter meinen Füßen. Wie ein fehlgeleitetes Echolot blubbert der Track "Amy" in meinen Kopfhörern. Es fühlt sich an, als ob die Kälte sich in meine Gesichtshaut frisst. Jetzt setzten warme Beatles-Flöten ein, die wie auf einer zu langsam abgespielten Bandmaschine charmant dahineiern. Mein Atmen wird als weißer Hauch in der schneidenden Luft sichtbar, während sich luftig leichte Percussions und eine Akustikgitarre über die Soundkollage legen. Im Rhythmus meiner Schritte spricht eine Stimme hypnotisch zur Musik, bis ein wahrer Soundsturm losbricht und ich am liebsten zum Laufen beginnen würde.

Frank Loriou
Der französische Multiinstrumentalist und Musiker Yann Tiersen, bekannt durch seine Kompositionen für "Die fabelhafte Welt der Amelie" und "Goodbye, Lenin", eröffnet auf seinem neuen Album "Dust Lane" gleich mit dem ersten Song "Amy" eine unglaublich tiefgehende, vielschichtige und berührende Musikwelt zwischen melancholischer Tristesse und leichtfüßig erscheinender Freudenstimmung. Hier zwitschern analoge Synthies und verzerrte Flöten durch die Gegend, dort scheppert und rollt ein rockiger Schlagzeugbeat, und über den dichten, krachigen Klangteppich erhebt sich ein wundervoller Chorgesang. Doch das ist nur der Anfang.
Die staubige Straße in die Realität
Gleich der Titeltrack "Dust Lane" führt uns auf eine lange Reise in die rockigen und psychedelischen Gefilde des Franzosen. Für diejenigen, die wissen, dass Tiersen in der 1980ern vermehrt Joy Division und The Stooges gehört und später selbst in diversen Post-Punk Bands Gitarre gespielt hat, kein ungewöhnlicher Weg. Die bedrückende Stimmung, die bei aller Energie immer wieder durchschlägt und mitunter Verwunderung auslöst, erklärt sich durch die letzten beiden Jahre, in denen Yann Tiersen sowohl seine Mutter, als auch einen engen Freund verloren hat.

Yann Tiersen
Zusätzlich hat eine Tour, die am Schluss den Musiker in den Gazastreifen führte, Tiersens Sinn für die die harte Realität geschärft. So erzählt er, dass trotz den Bildern, die wie alle aus den Medien kennen, die Eindrücke vor Ort viel mehr Emotionen auslösen und eine Distanz, die man im häuslichen "Konsumieren" des Themas leicht einnehmen kann, nicht mehr möglich ist. So buchstabiert Tiersen lediglich das Wort "Palestine" in dem gleichnamigen Track, um einen freien Raum für seine Erinnerungen aufzumachen und bietet so die Möglichkeit, dass die für sich sprechende Musik ungebremst in unsere Gefühlswelt vorstoßen kann.
Dass Yann Tiersen auf "Dust Lane" in recht dunkle Winkel seiner Seele hinabsteigt, beweist nicht nur das verstörende, opulent ausgebreitete Stück "Dark Stuff", sondern auch das wohl paradoxeste Klangexperiment "Ashes". Hier lässt sich der französische Komponist über eineinhalb Minuten Zeit für einzelne, erdrückende Klaviertöne, unterlegt mit leisen, kratzenden Streichern. Die Spannung, die sich dadurch unweigerlich aufbaut, wird durch ein zitterndes Akkordeon und eine akustische Gitarre etwas aufgelöst. Hinzu gesellen sich noch Mandoline und Bouzouki, bis schließlich mit dem Schlagzeugbeat der alles erlösende Chorgesang einsetzt und von einem angezerrten Bass begleitet die zuvor reduzierte Traurigkeit in hoffnungsvolle Euphorie transformiert.

Frank Loriou
Vom Komponieren zur Live-Performance
Der im Studio sehr zurückgezogen arbeitende Komponist Tiersen hat sich auch für seinen sechstes Werk Unterstützung geholt. Wie den Gründer der Third Eye Foundation, Gitarristen und Sänger Matt Elliott aus Bristol, oder die bretonische Sängerin Gaëlle Kerrien, mit der Tiersen das zauberhafte Schluss-Duett der Platte zum Besten gibt. Eine Nummer, die eigentlich als Liebeslied für seine Freundin gedacht war und schlussendlich zum universellen Liebessong für alle geworden ist. Für das perfekte, cinemascope-artige Sounderlebnis von "Dust Lane" zeigt sich übrigens Ken Thomas verantwortlich. In den legendären Olympic Studios in London hat er schon mit Queen oder David Bowie gearbeitet und kürzlich auch die Isländer Sigur Ros produziert. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass der extrem vielschichtige Sound von "Dust Lane" an jeder Stelle transparent bleibt, die nötige Dynamik aufweist und die ausgeklügelten Klangexperimente und eigenwilligen Songsstrukturen auch richtig funktionieren.
Yann Tiersen live in Österreich:
- Mittwoch 01.12. in der Arena Wien
- Sonntag 05.12. im Treibhaus in Innsbruck
- Montag 06.12. im Posthof Linz
Darüber hinaus hat Yann Tiersen für seine Bandumsetzung Schlagzeuger Dave Collingwood angeheuert, der bis 2008 noch bei den großartigen Briten Gravenhurst trommelte. Und das macht komplett Sinn, ruft man sich den Sound von Gravenhursts "Fires In Distant Buildings" in Erinnerungen. Schließlich ist es auch diese leicht unheimliche Atmosphäre, die Yann Tiersen in manchen seiner neuen Songs mitschwingen lässt, nur mit dem Unterschied, dass der Franzose immer im richtigen Moment das musikalische Schiff durch harmonisch beglückenden Auftrieb vor dem emotionalen Untergang bewahrt.
Bei Konzerten ist Gravenhurst Bassist Robin Allender ebenfalls oft in Tiersens Live-Band am Werk, so hoffentlich auch bei den Österreich Tourstopps in den kommenden Tagen. Allein von Anfang Oktober bis heute hat Yann Tiersen schon über dreißig Gigs absolviert und der folgende Live-Mitschnitt aus einem diesjährigen Konzert in Istanbul lässt großes Erahnen.