Erstellt am: 28. 11. 2010 - 16:51 Uhr
Hochlage, Tieflage, Stimmlage
Schöne Raumarchitektur, die auf perfekten Sound abgestimmt ist, so muss man sich einen Sendesaal vorstellen. Oder drei. Gestern Abend hat der bayrische Jugendsender On3 zum Festival geladen und seit Cat Powers Festival-Auftritt 2006 in eben diesem Rundfunkgebäude ist der November-München Termin fix in Kalenderstein gemeißelt.
Okay, letztes Jahr hab ich ausgelassen und den Überraschungsact Pete Doherty zwar versäumt, aber nicht vergessen. So wird die Phantasie im Vorfeld aus der Legebatterie in die Freilandhaltung entlassen oder vereinfacht gesagt: eins und eins zusammengezählt. Wer sollte sonst der Überraschungsgast sein, als Arcade Fire, die gestern ihren Day Off in München verbracht haben und heute im Zenith auftreten werden?

jan schünke
Einer der drei Sendesäle im Gebäude des Bayrischen Rundfunks ist der Orchesterprobensaal, wo alle Überraschungsgastauftritt-Suchende hingeschickt werden. Der Timetable verrät, dass hier Little Scream aus Montreal auftreten wird. Als ich um die Ecke biege und mir das Bühnengeschehen anschauen will, sehe ich schon Spencer Cobrin und Sam Taylor von Elva Snow und den dazugehörigen gut gelaunten Scott Matthew, der erzählt, dass er mit Little Scream einen Coversong performen wird, den sie am Nachmittag gemeinsam einstudiert haben. Schönere Überraschung kann es für mich persönlich nicht geben. Außer natürlich die bis dahin mir unbekannte Musikerin Little Scream selbst, die es zu entdecken gibt. Um im besten Falle das ihr angedichtete Referenzsystem (Scout Niblett, Cat Power) über Bord zu werfen und mit ihr im Ohr neues Stilmeinungskapitel aufzuschlagen.

jan schünke
Die kanadische Musikerin Laurel Sprengelmeyer aus Montreal hat gerade ihr Debütalbum fertiggestellt. Folk-Pop, der auch in vertrackte Bahnen wandert, wenn Little Scream ihre Stimme mit Looppedalen vertausendfacht oder ihre Gitarrenriffs in die hypnotische Wiederholungsschleife schickt. Yep, geschrien wurde auch.

ondrusova
Unterstützt wird Little Scream bei ihrem Livegig nicht nur von Arcade Fires Violinistin Sarah Neufeld sondern auch von Arcade Fires bestem Mann: Dem Multitasking-Instrumenten-Derwisch Richie Perry, der hinterm Schlagzeug Platz nimmt und mit Little Scream auch an ihrem Debüt "The Golden Record" gearbeitet hat. Veröffentlichungsdatum to be confirmed, aber wer über ihren Namen stolpert, sollte sich schnell aufrichten und näher hinhören. Das Duett mit Scott Matthew war übrigens ein Cover von Neil Youngs "Only Love Can Break Your Heart". Kabumm. Wiederbelebung. Herrlich.

matthias kestel
Eine der im Vorfeld vielzitieren On3-Lorbeeren-Acts war eine junge, ähm, blutjunge Formation aus Landau, Sizarr. Noch kein Album, erst ein Jahr frisch und mit dem ausgestattet, was heutzutage gleich viel zählt wie ein Proberaum oder eine Terabyte-Festplatte: die richtige Bookingagentur, die Sizarr zum Beispiel am Melt Festival auftreten lässt.
Percussive Trancemelodien mal vom Drumset, mal aus der Synthdose und diese Vocals, die launisch etwas von Füchsen und Wörtern erzählen. Das komplexe Soundprozedere wird ziemlich locker dargeboten, getanzt wird nicht nur in trauter Dreisamkeit, sondern mit einem gefüllten Studiosaal.

hannes rohrer
Sizarr also, drei Jungs, die ihre Pitchfork-Hausaufgaben gemacht haben. Man könnte glauben, die einzelnen Sizarr-Baukästchen zu erkennen und in Reagenzgläsern abfüllen zu können. Mal Animal Collective, mal Radiohead, mal Foals aber gerade mal so umgestimmt, dass nach jedem Song Neugier entsteht, sodass ich euphorisch vor der Bühne bleibe, bis ich merke, dass da keine Zugabe mehr kommt, egal wie oft und laut ich noch mit klatschen werde. Als Zugabe tippe ich also "Landau" in die Suchmaschine und torkle mit den Ergebnissen Richtung Wartezimmer: Kele kommt gleich.

matthias kestel
Mit "The Boxer" hat Kele Okereke die Indiegitarre kurz in die Ecke gelegt und lädt in die Großraumdisco ein. Mit einem Schlagzeuger, einem Percussionisten und einer Sängerin/Keyboarderin/Laptopmeisterin zeigt Kele, dass die Transformation von Rockstar zum Ravestar gelingt. Die Bloc Party-Schule hat er gut absolviert und zaubert in punkto Publikumsanimation einige alte Tricks aus dem Ärmel. Von "Are you ready to party" bis zum Stage diving.

jan schütte
Zufrieden will er sich mit dem höflichen deutschen Klatschen nach jedem Song nicht geben. Mitsingen, Mitschreien und Mitklatschen soll ein in sich fließender durchgehender Gefühlsausbruch sein, den Kele fordert. Bis es auch das Publikum versteht werden zwischenzeitlich Bilder aus ersten Discotagen wach: Könnt ihr euch an die Person erinnern, die immer als erste angefangen hat zu tanzen und alle haben hingestarrt? Vielleicht und vor allem weil besagte Person die Augen geschlossen hatte? So ähnlich war es kurz zu Beginn des Konzertes. Spätestens als Kele alte Bloc Party Hits anstimmt und sie quasi im Eigen-Remix live performt, ist dieses Bild wieder ins Langzeitgedächtnis abgestellt. Mit "This Modern Love" beendet Kele sein München-Gastspiel, verbeugt sich höflich mit Band im Arm und sagt "Tschüss".
Alle Infos zum On3-Festival mit Livesongs und Livevideos gibt es hier.
Richtung Ausgang wandernd höre ich noch zwei Besucherinnen sagen, dass "Servus" doch ein viel schöneres Wort sei, aber bevor ich mich umdrehen kann und die zwei Linguistinnen erspähen kann, kippt mir jemand ein Bier über die Jacke, und bevor ich mein Wienerisch auspacken kann, singt er mir tatsächlich vor: "I'll pay for you anytime!" Also winke ich aus dem Zentrum der Besucherstrommasse ein "next time!" in die Runde. So soll es sein.

jan schünke