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Zita Bereuter

Gestalten und Gestaltung. Büchereien und andere Sammelsurien.

25. 11. 2010 - 15:20

"Die Mitleidsindustrie" von Linda Polman

"Angenommen, es ist 1943. Sie sind Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation. Das Telefon klingelt. Es sind die Nazis. Sie dürfen Hilfsgüter in ein Konzentrationslager bringen, aber die Lagerverwaltung darf bestimmen, wie viel davon ans eigene Personal und wie viel an die Gefangenen geht. Was tun Sie?"

Es sind nicht mehr die Nazis, es sind diverse politische Gruppierungen, militante Organisationen, kriegsführende Folterer. Die Frage bleibt – hilft man Menschen in Not, wenn man weiß, dass man gleichzeitig die kriegsführende Seite unterstützt? Als Hilfsorganisation ist man zur Neutralität verpflichtet und darf sich diese Frage nicht stellen – "Humanitäre Helfer helfen wo, wem und wann auch immer." Folglich: "In der Praxis der ‚Fünften Ökonomie‘ der Welt liefern sie diese Hilfsgüter."

Die Praxis der fünften Ökonomie ist die gegenwärtige Praxis der internationalen Hilfsorganisationen. Die Bezeichnung "fünfte Ökonomie" hat die amerikanische John Hopkins University berechnet: Wären alle internationalen NGOs zusammen ein Land, so "würden sie eine 'Fünfte Ökonomie' der Welt darstellen".

NGOs haben also Geld. Viel Geld. Rund 120 Milliarden Dollar staatlicher Entwicklungshilfegelder und viele Milliarden aus privaten Spenden stehen jährlich zur Verfügung. Was sie damit machen, wie sie es einsetzen, vor allem aber, was sich hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen abspielt, beschreibt die niederländische Journalistin Linda Polman in ihrem Buch "Die Mitleidsindustrie".

"Rund um humanitäre Hilfe ist eine wahre Industrie entstanden, Karawanen von Organisationen, die mit den Geldströmen reisen und in immer wieder neuen humanitären Räumen miteinander um einen möglichst großen Teil der Milliarden konkurrieren."

buchcover - linda postman - die mitleidsindustrie - paket, das von mehreren haenden getragen wird

campus verlag

Linda Polman: Die Mitleidsindustrie. Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen. Übersetzt von Marianne Holberg, Campus Verlag 2010

Jahrelang war Linda Polman für die UNO unterwegs, ist als Embedded Journalist in diesen Karawanen mitgezogen, hat die Maschinerie der Mitleidsindustrie vor Ort miterlebt.

Sie beschreibt den Wettlauf, dem Hilfsorganisationen ausgeliefert sind, sobald eine Katastrophe ausgebrochen ist: Lager aufbauen, mit Wimpeln und Fahnen das Revier abstecken und dann schnell an die mediale Inszenierung gehen - her mit den Kindern mit aufgeblähten Bäuchen und Fliegen im Gesicht. Wer als erster die traurigsten Bilder hat, bekommt die meisten Spenden. "Donor Darlings" bringen immer Geld, also besonders mitleiderregende medientaugliche Kinder, die gern vor Kamerateams oder wohlhabenden Gästen gezeigt werden. Und die gerne auch aus dem Westen "adoptiert" werden – weil es ihnen da besser geht, zumindest sehen das die aus dem Westen so. Polman meint mit "Donar Darlings" auch ganze Katastrophen, die sich leichter Vermarkten lassen – für Medien und für Hilfsorganisationen - etwa Tsunami und Hungersnot.

Die Autorin berichtet von wilden Schätzungen nach Opferzahlen, von der unendlichen Suche nach Superlativen, und von äußerst absurden Wortabwandlungen - "Genocide-light" wird etwa für normale Massenmorde gebraucht.

linda polman portrait

Foto: Particia Hofmeester

Linda Polman lebt in den Niederlanden. Sie war jahrelang Korrespondentin bei den Truppen der UN-Friedensmission in Somalia, Haiti, Ruanda und in Sierra Leone.

In dieser "Mitleidsindustrie" wird selten etwas verschenkt. Im Gegenteil. Hilfe hat ihren Preis. Und der muss mehrfach bezahlt werden: Schutzgeld, Schmiergeld, Zölle, Abgaben. Polman führt Beispiele an, in denen letztlich 80 Prozent der Hilfsgelder auf ihrem langen Weg zu den Opfern irgendwo versickern.

So werden mit dieser Hilfe häufig Kriege weiterfinanziert, werden in Flüchtlingslagern Soldaten wieder zu Kräften gebracht und neue rekrutiert. Mitunter müssen die Hilfsorganisationen auch für Autos und Infrastruktur ordentlich bezahlen bzw. ihre Infrastruktur den Machthabern und Warlords zur Verfügung stellen. Oder nicht nur Medikamente, sondern auch Waffen liefern – durchaus auch im selben Flugzeug. Die Bilder dazu kennt man aus dem Film "Darwin's Nightmare".

Die Helfer werden also auch zu Tätern. Müssen zu Tätern werden, um in die Hilfsgebiete zu kommen. Egal ob Ruanda, Sierra Leone, Äthiopien, Kosovo, Irak, Afghanistan oder Pakistan. Die Liste ist unendlich lang.

Aber wann kann ein Hilfsteam sagen: "Unter diesen Bedingungen machen wir das nicht"? Selbst wenn, springt gleich ein anderes ein, dem die Bedingungen herzlich egal sind.

Polman kritisiert insbesondere private Initiativen und reiche Menschen, die irgendwelche Programme durchziehen – meist völlig unkoordiniert im Bann einer wilden Idee, die nicht immer den "Zweck" erfüllt. Diese Initiativen würden erst recht die Arbeit der großen Organisationen behindern. Da wird containerweise abgelaufenes Tierfutter geliefert oder gebrauchte Prothesen, die niemand braucht.

Mitunter bitten die Opfer, man möge keine Hilfe mehr schicken, denn nur so könne sich die eigene Infrastruktur wieder verbessern. Oder aber, man möge Hilfe aus dem eigenen Land holen. Bei der US-Hilfe für den mit Wiederaufbau des Iraks wurden hauptsächlich amerikanische Firmen beauftragt. Der Wiederaufbau wäre um 90 Prozent billiger, wenn sich Unternehmen vor Ort darum kümmern würden.

Linda Polman provoziert – denn sie zeigt Missstände in einem riesigen Wirtschaftszweig auf, der doch nur helfen will.

Linda Polman provoziert – und das ist gut so, denn hoffentlich provoziert sie auch die EntscheidungsträgerInnen.

Linda Polman provoziert und regt zum Nachdenken und Diskutieren an. Etwa am Donnerstag, 25. November in der Buchpräsentationsreihe Quadriga ab 18:30 Uhr im Palais Epstein in 1010 Wien.