Erstellt am: 26. 11. 2010 - 16:19 Uhr
Des Kanyes neue Kleider
Es gibt gute Gründe, Kanye West nicht zu mögen. Der Produzent und Rapper gibt sich in der Öffentlichkeit gerne übertrieben selbstverliebt und sorgt regelmäßig für Skandälchen, wenn er unter Einfluss von teurem Sprudel (plus Testosteron plus X) bei mittelwichtigen Preisverleihungen wütend die Bühnen stürmt, weil er oder seine Freundinnen völlig unberechtigt nicht gewonnen haben. Der beleidigte Narziss verkörpert in seiner Hassliebe zur Medienmaschine perfekt die verklatschspaltete Pop-Welt 2010.
Kanye West
Andererseits muss man Kanye auch viel zugute halten. Als Produzent hat er den HipHop- & R&B-Sound der 2000er maßgeblich mitgestaltet und das wahrlich nicht zum Schlechten. Viel mehr hat der in Chicago großgewordene Beatschmied nach Jahren der Synthie-Presets fast im Alleingang eine gute Portion Soul in den afroamerikanischen Musik-Mainstream zurückgebracht.
Im Gegensatz zu den meisten seiner Rapper-Kollegen versteckt Kanye zudem das fragile Muttersöhnchen-Ego hinter dem trotzig-arroganten Gesichtsausdruck überhaupt nicht, sondern macht es im Gegenteil zum zentralen Thema seiner Texte. Das kann zugegeben auch anstrengend werden ("too much information" sagt die Amerikanerin dazu), trägt aber auf jeden Fall positiv zur Aufweichung antiquierter Männlichkeitsentwürfe in der Rap- wie auch Pop-Welt bei.
Kanye West
Und, vielleicht am wichtigsten: Der Typ hat Ambitionen. Weit über Rap, sogar weit über die Musik hinaus. Er sieht sich selbst als Renaissance-Mann, als 360°-Künstler und Pop-Avantgardisten. Und damit hat er zu großen Teilen sogar recht. Wenn seine hochambitionierten Projekte mal schiefgehen, dann macht das eigentlich auch nichts. Die Angst vor dem Scheitern scheint West nämlich irgendwann zwischen nahetödlichem Autounfall und Weltruhm komplett verloren zu haben. Alleine deshalb ist es wichtig, dass es Kanye West gibt. Auch wenn man deshalb die Musik selbst noch nicht uneingeschränkt gut finden muss.
Bestes Beispiel: Die traurige Autotune-Operette "808s & Heartbreak", auf der Kanye das Ende einer Langzeit-Beziehung und den Tod seiner Mutter verarbeitete. Was in der Praxis vor lauter Pathos und Selbstmitleid fast nicht anhörbar war, hat als Konzept in den zwei Jahren seit seinem Erscheinen durchaus interessante Echos ausgelöst, von der DJ Nobody LP bis zum Bon Iver-Song.
Interscope
So sieht das Cover aus.
Letzterer wird auf Kanye's "My Beautiful Dark Twisted Fantasy" zum hymnischen Baltimore Club-Stampfer "Lost In The World" und spiegelt das Grundthema der Platte sehr genau wieder: Die seelische Verwahrlosung, die Einsamkeit, die Verwirrung und das Unverständnis der Außenwelt, das so ein Leben am Pop-Thron zwischen "porn stars" und "sports cars" so mit sich bringt. Kanye leidet wieder. Das große Mitleidsgefühl will sich aber nicht so richtig einstellen - vielleicht auch wegen seiner offensiver Freude an Luxus- und Konsumwaren.
Musikalisch sollte es auf der neuen LP vom Maschinenblues wieder zurück zum rohen Boom Bap gehen, das hatte Kanye West selbst angekündigt. Nun ja, tatsächlich fanden Produktionen von Legenden wie dem RZA und Wests großem Mentor No.ID ihren Weg aufs Album. Andere hochkarätige Beat-Kollaborationen wurden im Vorfeld als Promo-MP3s verschenkt (Pete Rock, Q-Tip) oder kamen dann - aus welchen Gründen auch immer - doch nicht zustande (DJ Premier, Madlib).
Was Kanye West aber letztlich aus den Instrumentalen gemacht hat, ist weniger eine Rückkehr zu seinen Wurzeln als die Erfindung eines neuen Sub-Genres: "Prog Rap". Kaum ein Song, der nicht an irgendeiner Stelle in minutenlange Gitarrensoli, Streicherparts oder Choräle übergeht - ohne dabei Wesentliches hinzuzufügen.
Interscope
So hätte es sich Kanye gewünscht
Den Gipfel dieser "Geld spielt keine Rolle" oder "Je mehr, desto besser"-Mentalität stellt wohl die aufgelegte Radiosingle "All Of The Lights" dar, die neben Rihanna-Feature und Orchester noch einen WeAreTheWorld2010-Chor mit Akteuren wie Alicia Keys, Fergie, Elly (La Roux), Drake oder Elton John verpasst bekommen hat. Man stellt sich an solchen Stellen vor, wie sich Kanye im hawaiianischen Studio immer neue "Traum"-Kollabos ausdenkt und dann die Personal Assistants und Manager ausschickt, um das Organisatorische klarzumachen (siehe auch die Bieber/Raekwon Episode).
Letztlich bleiben von all dem Produktionsirrsinn und Größenwahn ein paar sehr gute bis gute Songs, die man aber großteils noch entschlacken hätte können ("Dark Fantasy Redux", irgendwer?). Uneingeschränkter Geniestreich ist das jedenfalls keiner, auch wenn das manche Kollegen scheinbar anders sehen (wobei die ganz gegenteilige Meinung natürlich auch weit übers Ziel hinausschießt).
Kanye West
Weiterlesen bei Christian Lehner über Odd Future.
Eine interessante Frage wirft dieses Album jedenfalls auf: Wie würde die Musik wirken, wenn wir sie abgekoppelt vom Marketing-Pomp und Kanyes überpräsenter Persönlichkeit wahrnehmen könnten? Ohne die George Bush-Diskussion (wirklich - Kanye Wests Rassismus-Unterstellung war schlimmer als 9/11 oder die zwei mäßig erfolgreichen Kriege?), ohne den herrlich dekadenten "Arthouse"-Kurzfilm oder den zeitweise übergehenden Twitterfeed?
Andererseits: Das alles ist 2010 eben Teil des Gesamtkunstwerks - ob man nun will oder nicht.