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Robert Glashüttner

Videospielkultur, digital geprägte Lebenswelten.

23. 11. 2010 - 18:58

Wer bin ich, wenn ich online bin?

Das aktuelle Buch des US-amerikanischen Autors und IT-Kritikers Nicholas Carr ortet eine Veränderung des Lesens und Lernens - hervorgerufen durchs Web.

nicholas carr portrait

© Joanie Simon

© Joanie Simon

Wenn einmal etwas erfunden ist, kann es nicht mehr rückgängig gemacht werden. Dieser eindringliche Fakt bezieht sich nicht nur auf erschreckendes Kriegswerkzeug wie etwa die Atombombe, sondern auch auf andere militärische Erfindungen, die scheinbar harmlos auf die Zivilbevölkerung rübergereicht wurden und werden. Das Internet ist dafür das vielleicht beste und nachhaltigste Beispiel. Das Netz ist freilich nicht nur Technologie sondern auch Medium. Eines, das uns im Laufe der Zeit ziemlich verändert hat, wie der kritische Autor Nicholas Carr in seinem neuen Buch "Wer bin ich, wenn ich online bin…und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert." analysiert.

"Wir lechzen nach Neuem, selbst wenn wir wissen, dass 'das Neue meist nicht unbedingt wichtig, sondern eher trivial ist'. Also bitten wir das Internet, uns weiterhin auf unterschiedlichste Art und Weise und immer öfter zu unterbrechen. Billigend nehmen wir dabei den Verlust unserer Konzentration in Kauf. Im Gegenzug erhalten wir wichtige oder zumindest unterhaltsame Informationen. Sich einfach auszuloggen ist eine Option, die die meisten von uns nicht in Betracht ziehen."

Zu vieles zu schnell?

Es ist nicht einfach für uns, die rasante Entwicklung des Webs und wie es uns prägt, zu reflektieren und zu verarbeiten. Gerade mal 20 Jahre hat es gedauert, bis wir vom obskuren Piepsen des Modems für mehrminütige Online-Sessions beim täglichen, stundenlangen Eintauchen ins Web angekommen sind. Nicholas Carr beschäftigt sich mit der komplexen Frage, wie das Netz das Aneignen von Wissen verändert und was dabei mit unseren Gehirnen geschieht. Die grundlegende These: Reizüberflutung und die ständige Verfügbarkeit neuer Inhalte aus dem Netz ließe uns unkonzentrierter und oberflächlicher werden.

Trotz dieser Erkenntnis macht es sich Carr in seinen Ausführungen und Argumentationen nicht einfach. Der IT- und Social Web-Kritiker ist kulturell und technisch sehr versiert. In seinem populärwisschenschaftlichen Buch zeigt er weder Kompetenzschwäche noch Mangel an Rechercheaufwand. Seine Belege für den von ihm konstatierten Status Quo sucht und findet er in der Vergangenheit. Jedes neue Medium, jede technische Revolution, so Carr, hätte bereits unsere Wahrnehmung und unser Abstraktionsvermögen maßgeblich beeinflusst. Etwa die Uhr:

"Unabhängig von den praktischen Hintergründen, die zur Erfindung der Zeitmesser geführt hatten und nun ihren Gebrauch im Alltag bestimmten, trug das methodische Ticken der Uhr zur Entstehung des wissenschaftlichen Geistes und des wissenschaftlichen Menschen bei."

Neben seinen umfangreichen historischen Exkursen ist es vor allem der aktuelle Stand der neurologischen Forschung, der es Nicholas Carr angetan hat. Die mittlerweile nachgewiesene, sogenannte Neuroplastizität des Gehirns sorgt dafür, dass - egal, ob man alt oder jung ist - neue Nervenbahnen gestärkt und alte geschwächt werden - dementsprechend, wie man sein Leben und Lernen gestaltet. Der Zeitraum, in dem das konzentrierte Lesen massentauglich gewesen sei, wäre nun wieder vorbei. Heute, so Carr, würden wir in gewisser Weise wieder zum ursprünglichen Naturzustand des Gehirnes zurückkehren, zu einer "gewissen Unkonzentriertheit", die aus der Steinzeit rühren würde.

"Das Netz wirft uns zurück auf unseren Naturzustand breit gefächerter Wachsamkeit, konfrontiert uns aber gleichzeitig mit weitaus mehr Reizen, als unsere Vorfahren je zu verarbeiten hatten."

Analytisch pessimistisch

buchcover nicholas carr wer bin ich, wenn ich online bin ...

blessing verlag

Nicholas Carr: "Wer bin ich, wenn ich online bin…
und was macht mein Gehirn solange?
Wie das Internet unser Denken verändert."
Aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind, Blessing Verlag 2010

Carr spricht weiters von einer sogenannten "Reizkakophonie" und prangert den Verlust des "vertieften Lesens" an. Er bringt auch Gegenargumente von Kritikern ein, die etwa ehemals sakrosankte Werke wie Tolstois "Krieg und Frieden" in Bezug auf zeitgenössische Lesegewohnheiten als "zu lang und nicht besonders interessant" disqualifizieren. Nicholas Carr kontert darauf hart:

"Solche Verkündungen wirken ein wenig zu inszeniert, um ernst genommen zu werden. Sie sind jüngster Ausdruck des extravaganten Getues, das den anti-intellektuellen Flügel der akademischen Welt traditionell kennzeichnet."

Wir seien nun weder konzentriert noch kreativ, wenn uns das Netz quasi in sich aufsaugt. Laut Carr würden wir - Neuroplastizität sei Dank - zwar weiterhin die Gabe zu tiefer Besinnung in uns tragen, wie er es nennt. Doch wir würden heute zunehmend die Fähigkeit verlieren, "eine Grenze zwischen diesen beiden höchst unterschiedlichen Bewusstseinszuständen zu ziehen." Nicholas Carr führt immer wieder historische Beispiele an, die belegen sollen, dass die grundlegenden Probleme beim Lernen und bei der Wissensaneignung früher beinahe ident dazu waren, wie sie es heute sind: Zu viel und zu fragmentiertes Wissen trifft auf zickige Synapsen und zu wenig Zeit. Der neue und besorgniserregende Aspekte sei heute, dass die universelle und permanente Verfügbarkeit von Informationen im Internet uns kaum noch von unserem ständigen Alarmzustand lösen können würde. Es fehle, kurz gesagt, an Ruhe und Gelassenheit.

Gutes Buch mit altem Problem

Eine Frage, die sich beim Lesen von "Wer bin ich, wenn ich online bin?" schnell stellt: Gibt es so etwas wie eine Effizienz der Wissensaneignung? Nicholas Carr bringt dafür erneut historische Beispiele, doch naheliegenderweise ist Google das wichtigste aktuelle Beispiel dafür. Google will das gesamte Wissen der Welt ordnen und universell zugänglich machen. Das beschert dem IT-Riesen eine hegemoniale und normative Kraft darüber, was Wissen und Lernen bedeutet und was wie relevant ist. Etwas, das durch Projekte wie Wikipedia wiederum ins Gegenteil verkehrt wird - hier entscheiden individuelle Autoren bzw. die Community darüber, was relevant ist, und was nicht. Doch auch dieses Prinzip hat Carr in der Vergangenheit bereits ausführlich an den Pranger gestellt.

Trotz der vielen Beispiele und der umfassenden Reflexion ist die größte Schwäche des Buches der alte Fehler, dass neue Medien für den angeblichen Niedergang alter Kulturtechniken verantwortlich gemacht werden. Dennoch ist "Wer bin ich, wenn ich online bin?" durchgehend lesenswert, auch, weil viele historische Fakten wie die Kulturgeschichte der Schrift und des Lesens sehr erzählerisch aufbereitet werden. Obwohl Nicholas Carr mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg hält und kein Wissenschafter ist, beherrscht er die größte Tugend der wissenschaftlichen Arbeit: Gründliche historische Recherche mit Wesen und Status der gegenwärtigen Gesellschaft in Verbindung zu bringen.