Erstellt am: 24. 11. 2010 - 18:59 Uhr
"Hurra, wir dürfen zahlen"
Das Buch von Ulrike Herrmann bezieht sich zwar ausschließlich auf die Situation in der Bundesrepublik Deutschland. Im Interview offenbart sie aber eine erstaunliche Kenntnis der österreichischen Verhältnisse, die sich, nach ihrer Aussage, nur graduell von denen in Deutschland unterscheiden. Müsste sie das Buch nochmal schreiben, sagt sie, würde sie aber ein Kapitel über Österreich mit einfügen.
Wieder kracht ein Land, wieder werden Banken gerettet, wieder zahlt's ... der Steuerzahler. Und wer ist das, der Steuerzahler? Na alle, oder? Das stimmt nicht ganz, schreibt die deutsche Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann. Denn belastet wird, auch bei der Bankenrettung, vor allem die Mittelschicht – und das, obwohl sie eigentlich die mächtigste Bevölkerungsgruppe wäre. In ihrem Buch "Hurra, wir dürfen zahlen - der Selbstbetrug der Mittelschicht" wundert sich Ulrike Herrmann, was die viel beschworene Mitte der Gesellschaft alles mit sich machen lässt.
Denn eigentlich wäre ja alles ganz einfach: Wahlprogramme anschauen, Vorschläge nachrechnen, Kreuzerl machen. Aber so passiert es eben nicht (nicht nur, weil Wahlprogramme hinterher oft nicht mal das Papier wert sind auf dem sie gedruckt sind). Das, schreibt Ulrike Herrmann, ist ein Problem. Denn quasi alles, was den Wählerinnen und Wählern in den letzten Jahr(zehnt)en als "notwendige Reformen" verkauft wurde, das habe nur einer gesellschaftlichen Gruppe genützt: der Oberschicht, den Eliten. Draufgezahlt habe, neben den sozial Schwachen (der Unterschicht) vor allem die Mitte der Gesellschaft.
Oben, Mitte, Unten
Westend Verlag
Deutschland ist eine Klassengesellschaft, schreibt Ulrike Herrmann in ihrem Buch, und mit Österreich, so erzählt sie im Interview, verhalte es sich nicht anders. Die Struktur der Besitzverhältnisse habe sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht maßgeblich geändert.
Heute ist es in Österreich so, dass das reichste Prozent der Bevölkerung ein Drittel des gesamten privaten Vermögens besitzt, die reichsten zehn Prozent gar zwei Drittel. Doch anstatt die Vermögenden angemessen an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen, wurden in den letzten Jahren Erbschafts- und Schenkungssteuer abgeschafft, hohe Einkommen entlastet und die Unter- und Mittelschicht durch Sparprogramme und Abgabenherhöhung mehr und immer mehr belastet. Und wer ist schuld daran? Die Schmarotzer aus der Unterschicht natürlich – zumindest für die Meinungs- und Stimmungsmacher: Haider, Blocher, Dichand, Sarrazin – reiner Zufall, dass ausgerechnet die, die vorgeben, die Interessen der "kleinen Leute" zu vertreten, alle Millionäre sind?
Die Mittelschicht ist selber schuld
Zur Mittelschicht gehören laut der Definition des DIW, die Ulrike Herrmann verwendet, alle, deren Nettoeinkommen zwischen 70 und 150% des durchschnittlichen Einkommens beträgt.
Für einen Single wären das in Deutschland zwischen 1.070 und 2.350 € netto monatlich, bei einer Familie mit zwei Kindern ca. 2.200 bis 4.935 €; für Österreich gibt es nicht genug Daten, um das genau auszurechen, die Verdienste dürften aber etwas höher liegen.
In Deutschland gehörten damit vor vier Jahren noch 54% der Bevölkerung zur Mittelschicht, vor zehn Jahren waren es noch gut 60%.
Die Mittelschicht ist selber schuld, das schreibt Ulrike Herrmann, und zwar, weil sie die größte Zahl der Wähler stellt und trotzdem gegen ihre Interessen handelt. Die Populisten präsentieren die Unterschicht (respektive »die Ausländer« bzw. »die Muslime«) als Sündenböcke, die die Gesellschaft so viel kosten würden, dass Sparmaßnahmen notwendig seien. So werden – siehe die aktuelle österreichische Budgetsituation – Staatsausgaben gekürzt, die vor allem der Mittelschicht zu Gute kommen – die Oberschicht kann sich für ihre Sprösslinge sowieso Privatschulen leisten.
Es sind Argumentationen wie diese, die Ulrike Herrmann in ihrem Buch und im Interview zuhauf bietet, und nicht nur das: sie liefert als Beleg auch die Zahlen dazu.
Ich wollte das wenigstens mal aufschreiben, sagt sie im Interview, deswegen habe ich das Buch geschrieben, um es den Leuten wenigstens mal vorzuführen, wie diese Mechanismen funktionieren. Aber ob das jetzt wirklich den großen Wandel herbei führt, da habe ich auch meine Zweifel.
Wie der Esel hinter der Karotte
Warum die Mittelschicht so “blöd” ist, auch noch mehrheitlich die zu wählen, die ihnen das Geld aus der Tasche ziehen? Ulrike Herrmann vermutet, dass sie sich heimlich zur Elite rechnet, oder zumindest beinahe zur Elite.
Beim letzten Armuts- und Reichtumsbericht hatte die (deutsche) Regierung eine sehr pfiffige Idee, sie hat nämlich eine Umfrage gemacht unter den Deutschen und gefragt: "Was ist für Sie eigentlich Reichtum?" Und da kam dann raus, dass für jeden der Reichtum knapp oberhalb des eigenen Einkommens anfängt. IN dieser Logik muss man sich nur ein bisschen anstrengen, und dann ist man auch bei den wirklich Reichen. Und der enorme Abstand zu denen, die die Millionen haben, der fällt dann gar nicht auf.
Wie der Esel hinter der Karotte läuft die Mittelschicht dem Traum vom Aufstieg hinterher. Dabei ist die gesellschaftliche Mobilität in wenigen Ländern so eingeschränkt wie in Deutschland und Österreich. Dafür sorgt schon das Schulsystem.
Noch mehr: auch die Einkommen verschieben sich immer mehr in Richtung derer, die eh schon genug haben, die Mittelschicht nimmt ab. In Deutschland sind zum Beispiel die Reallöhne selbst in der Boomphase Mitte des Jahrzehnts gesunken; in Österreich hat sich der Anteil der Gewinne am gesamten Volkseinkommen (im Verhältnis zu den Löhnen) seit 1980 verdoppelt.
Ein neuer New Deal?
Eine angemessene Lösung wäre für Ulrike Herrmann ein neuer New Deal, wie bei der letzten großen Wirtschaftskrise in den Dreißger Jahren:
Damals beim New Deal hat man konsequenter Weise gesagt: Wenn man die Reichen rettet, dann müssen sie auch für diese Kosten aufkommen, und hat dann den Spitzensteuersatz auf bis zu 79% angehoben. Das wäre heute gar nicht nötig, denn damals musste man ja auch noch den Zweiten Weltkrieg finanzieren.
Aber das Interessante an diesem Lehrstück New Deal war ja, dass obwohl die Steuern so derartig hoch waren, es nicht so war, dass die Reichen nicht mehr reich gewesen wären oder der Kapitalismus zugrunde gegangen wäre - sondern ganz im Gegenteil: Am Ende war es sogar so, dass auch die Reichen profitiert haben. Diese Vermögens- oder Einkommensverteilung, die sehr viel gleicher wurde, hat dann dazu geführt, dass das Wachstum enorm war, weil zum ersten Mal auch die Arbeiter und die Angestellten konsumieren konnten. Und einen ähnlichen Effekt würde man auch diesmal erzielen.
- In der Homebase vom 24.11. gibt es einen Auszug aus dem Interview mit Ulrike Herrmann.
- Das ganze Interview könnt ihr kommenden Sonntag ab 21 Uhr im Sumpf hören. Und hier 7 Tage zum Nachhören.
Obwohl Ulrike Herrmanns Buch vor Zahlen und Fakten strotzt, ist es kein Statistikmonster, sondern legt seine Thesen gut lesbar und überzeugend dar. Viel ist in die Fußnoten ausgelagert, was den Lesefluss zusätzlich fördert. Man merkt, dass Ulrike Herrmann dieser Selbstbetrug wirklich nervt, dass es ihr ein Anliegen ist, Dinge klar zu stellen und politische Mythen und Verdrehungen zu korrigieren.
Leider erhalten bei der Suche nach Ursachen für den Selbstbetrug der Mittelschicht psychologische Komponenten wie die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg zu wenig Gewicht, als taz-Redakteurin und Norddeutsche geht die Autorin (zuminidest für hiesige Verhältnisse) etwas zu sehr vom vernunftgeleiteten Individuum aus. Aber vieleicht trägt das Buch ja ein bisschen dazu bei, wieder ein bisschen Vernunft in der ökonomischen Debatte Einzug halten zu lassen.