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Christian Lehner Berlin

Pop, Politik und das olle Leben

18. 11. 2010 - 19:05

Odd Future

Denn sie wissen, was sie tun: In den USA liebt und fürchtet man die dunklen Ansagen eines jungen Hip Hop Kollektivs aus Los Angeles.

Dekadenz und Niedergang

"I'm bad milk, drink me!"

(Tyler The Creator in "Bastard")

Die Odd Future Website mit allen Alben und Mixtapes zum Gratisdownload.

Rezeptions- und Gewissenskonflikte

Dem US-Hip Hop ging es ja in letzter Zeit nicht so gut. Die Straße singt zwar immer noch von der Straße, allerdings aus der Perspektive goldener Villen, während künstlerisch Armenhäuser errichtet werden und die Verkaufszahlen in den Marmorkeller rasseln. Selbst die Power des imperialen Kanye verpufft zunehmend im Sternbild der kolumbianischen Milchstraße (obwohl das neue, in ein paar Tagen erscheinende Album angeblich über Wasser wandeln kann). Vergangene Woche hat sich der Hip Hop Star kleinlaut beim ehemaligen Präsidenten für seinen "George Bush doesn’t care about black people"-Sager im Anschluss an Hurricane Katrina entschuldigt. Sonst gibt West für die weiße Hipster-Schickeria des Landes zunehmend den übergeschnappten Kasper.

Doch auch die derzeit schwerst angesagte Fluchtbewegung in die glorreiche Vergangenheit names Soul führt langfristig wohl eher in die Sackgasse des Musealen - da kann ein Aloe Blacc über die Umwidmung von Gesellschaftskritik in kaffeemaschinenfreundliche Leidenspatronen noch so viele Dollars aus der Krise schlagen. Allein von den Rändern aus und über die Mittel der bekifften Satire wird etwas am stumpfen Felsen der großen Reimform gerüttelt.

Drastik aus dem Kinderzimmer

Odd Future

oddfuture

Doch was ist das? Aus dem Schatten des Internet hebt mächtig eine Welle der Erneuerung an. Wir wollen hier nicht voreilig von Rettung sprechen, doch die Expertenmeinung sieht die Zukunft des Sprechgesangs bei einem Hip Hop Kollektiv mit dem Namen Odd Future - wenn auch mit Vorbehalt, weil gefährlicher Stoff.

Dabei handelt es sich um eine Posse junger Skater aus LA, die mittels schwerst verdaulicher Lyrik zwischen Nihilismus, Gewalt und Horror zurzeit massivste Aufmerksamkeit generiert und in ihrer dunklen Schaffenskraft an den großen Wu Tang Clan erinnert, mit dem man selbstredend nicht verglichen werden will (GZA ist ein Fan).

Odd Future wollen grundsätzlich mit nichts und niemanden verglichen werden und haben auf alle und alles eine mörderisch vergewaltigende Wut – zumindest künstlerisch – auch auf sich selbst. So weit so teenage rage.

No Insane Clown Posse

Keines der 10köpfigen Mitglieder hat die 20 übersprungen. Im Mittelpunkt der sich mit vollem Namen Odd Future Wolfgang Kill Them All oder kurz OFWGKTA nennenden Posse steht Tyler The Creator. Der ehemalige Filmstudent gibt den Ton an, zeichnet für das Arwork und die meisten Videos sowie Statments über die Crew verantwortlich. Die Kids bezeichnen sich selbst als "Family". Sie alle stammen aus degenerierenden Mittelklasse-Familien, für die der Traum einer gleichberichtigten Suburbia-Existenz in LA mit der Krise endgültig an die Wand gekracht ist. Viele der hasserfüllten Lyrics handeln vom Aufwachsen ohne Vater.

Outro-vert: Nach Ansicht dieses Videos hat die Mutter des 16 jährigen Earl Sweatshirt ihren pösen Puben angeblich in ein geschlossene Schule mit Boot Camp Charakter stecken lassen.

Doch das über die Blog-Plattform tumblr ausgebreitete Universum der Odd Future tickt anders als jenes vorangegangener Hip Hop Generationen. Der misogyne Gangsta Rap kehrt weder zurück auf die Straße, um von dort aus CNN für black people zu spielen, noch übt er sich in Auto Tune beschleunigter Überhöhung oder Ironie. Den Raps von Tyler The Creator, Earl Sweatshirt, Mike G, Hodgy Beats, Left Brain (zusammen MellowHype), Domo Genesis und dem Rest der Crew haftet etwas zutiefst Authentisches an. Wohlwollend kann man diese Signalsprache als Sperrfeuer gegen die allgemeine Gleichgültigkeit deuten - von der Straße ins Eigenheim.

Dabei agieren die jungen Rapper nicht bloß soziopathisch oder wie im Täter/Opfer/Täter Rollenspiel gefangen. Zwischen den Raps und Beats schwingt ein Bewusstsein von der kommerziellen und künstlerischen Aushöhlung der Gangsta-Figur im Hip Hop mit. Hier wird sehr genau über Inhalt und Form des Genres und der Hype-Kultur des zeitgenössischen Pop reflektiert ohne es notwendigerweise zum Gegenstand der Raps zu machen - und zwar auf eine dermaßen schlagende Art und Weise, die sowohl den alten Bros als auch der schreibenden Zunft tiefsten Respekt abnötigt: Denn sie wissen genau, was sie da tun.

Odd Future

Broog Bobbins

Odd Future mit Mos Def nach ihrem Auftritt in der Webbster Hall letzte Woche. Foto by: Broog Bobbins

Das hat eine neue, so noch nicht gehörte und gesehene Qualität: Die Drastik, schon seit jeher ein probates Mittel zur Einforderung von Aufmerksamkeit im Pop, erlebt eine virale und strategisch alle selbstverwalteten Kanäle und Ausdrucksformen umfassende Ausreizung.

Der Geschwindigkeit des Netzzeitalters entsprechend haben Odd Future allein in diesem jahr unter verschiedenen Besetzungen insgesamt neun Alben und Mixtapes als Gratisdownload auf ihrer Website veröffentlicht. Der Mythos vom Clan erfährt durch diese Omnipräsenz eine neuzeitliche Entsprechung im Netz.

Shock Value

Musikalisch überrascht die Crew mit einer sinistern Lo-Fi Ästhetik, die mittels Home-Recording von Syd, dem einzigen weiblichen Mitglied von Odd Future, überwacht wird und schon mal die eine oder andere Piano-Miniatur im Singer/songwriter-Stil zulässt. Die Stimmung der Tunes gemahnt interessanterweise eher an das diesjährige Album des großen Alten, Gill Scott-Heron, als an die Jungware von peers wie etwa Kid Cudi. Die grummelnden Synth Basslines und die hypnotisch verschleppten Soundspuren erinnern aber nicht nur an Beat Experimente irgendeiner Hip Hop Schule, sondern zeigen sich auch eindeutig von Dubstep und Chillwave dieser Tage beeinflusst.

Intro-vert: Tyler The Creator macht aus seinem Herz eine Mördergrube. Der Song ist eine schonungslose Abrechnung mit dem Vater, der die Familie verlassen hat - ein weit verbreitetes Problem in den afroamerikanischen Communities.

So entwerfen Odd Future vom Kinderzimmer aus eine apokalyptische und grausame Landschaft der Adoleszenz, die vor Gewaltfantasien, Frauenfeindlichkeit und Autodestruktion trieft und in ihrer Drastik und Wirkungsmacht tatsächlich staunend macht.

Multitalent trifft auf Psychoschrott, Post-Hip Hop Hip Hop und Swagger. Schon diskutieren die einschlägigen US-Medien über die Zumutbarkeit von Odd Futures Kunst ohne Ausfallshaftung als wären N.W.A. gerade aus dem Ei geschlüpft. Medien (inklusive Blogs) und die Plattenindustrie werden von Tyler The Creator erwartungsgemäß mit einem herzlichen Fuck You! bedacht. Aufgrund der drastischen Kernbotschaften darf das kommerzielle Potential momentan eher gering eingeschätzt werden. Doch schon ist mit XL-Recordings ein Label involviert und Larry Clark, obsessiver Dokumentarist amerikanischer Teenager Dramen, hat auch bereits einen Clip gedreht.

To be very continued