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Christian Stiegler

Doktor für grenzwertiges Wissen, Freak-Shows und Musik, die farblich zu Herbstlaub passt.

20. 11. 2010 - 11:09

Die Grace Kelly des Pornos

In Tommy Wieringas Roman "Der verlorene Sohn" erfährt Ludwig, dass seine Mutter ein Pornostar ist.

Als Selwyn die Videokassette einlegt, wartet Ludwig schon in spannender Erwartung. Das Auge der Kamera zoomt auf eine junge Frau. Rauch formt den Titel des Films: "Lilith". Es dürfte sich um eine Billigproduktion handeln. Die Kamera folgt der jungen Frau, tastet ihren Körper ab und schwenkt auf zwei Männer in Lendenschürzen, die eindeutig etwas im Schilde führen. "Du bist eine Schlampe. Und du weißt, was wir mit Schlampen machen." Aber Ludwig traut seinen Augen nicht. Diese Frau, die kennt er doch. Ist das nicht...das ist doch seine Mutter! Ludwig kotzt auf den Teppich. Er legt den Hand auf den Mund und stürzt zur Toilette. Der plötzliche Brechanfall verdrängt für kurze Zeit die Erkenntnisblitze aus seinem Kopf, das Wissen, dass es seine Mutter war. Hier beginnt alles.

Tommy Wieringa - Der verlorene Sohn

Hanser

Mann und Pferd schwimmen im Meer

Der Sohn des Pornostars

Tommy Wieringa - Der verlorene Sohn

Hanser

Tommy Wieringa: "Der verlorene Sohn" ist 2010 bei Hanser erschienen. Der Roman wurde von Bettina Bach aus dem Niederländischen übersetzt.

Wir beobachten Ludwig als Pianist in einer kleinen Bar. Er verdient sich sein Geld mit billigen Pianoversionen von "My Way" oder "Yesterday" und vergisst dabei für einige Augenblicke sein Leben. Es ist ein bewegtes Leben, aber sicherlich keine glückliche Kindheit. Seinen Vater hat Ludwig nie kennengelernt, schon früh verlässt der erfolglose österreichische Künstler seine Familie. Ludwig wächst allein mit seiner Mutter auf, aber auch die scheint ständig auf der Flucht. Das Haus in Alexandria wird verkauft, man zieht nach Los Angeles, danach an die Ostküste Englands, wo man sich ein Haus an einer Klippe kauft. Es ist billig. Kein Wunder, droht es doch jederzeit von der Klippe zu stürzen.

Die Beziehung von Mutter und Sohn ist reichlich seltsam. Sie scheint zu Beginn innig, allerdings allzu innig. Denn die Mutter schminkt Ludwig regelmäßig, worauf er jedesmal masturbiert - und dabei an seine Mutter denkt.Für diese Momente verzeiht er ihr sogar ihre Unzuverlässigkeit, ihre ständigen Eskapaden und Lügen. Doch als er bei seinem Freund Selwyn den Pornofilm "Lilith" sieht, verzeiht er ihr nicht mehr. Seine Mutter ist Pornostar, aber nicht irgendeiner. Sie ist Eve LeSage, die Grace Kelly des Pornos", wie Ludwig im Internet erfährt. Eve LeSage treibt es in jungen Jahren bunt und mit jedem, ihre Filme sind Klassiker. Als Ludwig seine Mutter darauf anspricht, verweigert sie Rechenschaft. Es sei schließlich ihr Leben. Und wenn Ludwig es genau wissen wolle: Eve LeSage plant ein Comeback. In Wien.

Der Tod, das muss ein Wiener sein

Lesung:

  • Tommy Wieringa liest am Samstag, 20. November im Rahmen der BUCH WIEN

In Wien soll Eve LeSage die Geschichte der "Josefine Mutzenbacher" neu aufrollen. Lange Zeit hielt man die Erzählung der Wiener Prostituierten Mutzenbacher für echt, dann wurde sie Arthur Schnitzler und Felix Salten zugeschrieben. In den 1970er Jahren wurde Christine Schuberth durch die Verfilmungen des Stoffes bekannt. Nun soll Eve LeSage in ihre Fußstapfen treten, die LA Weekly spricht schon vom "Greatest comeback in the history of porn". Ludwig blickt hinter die Kulissen des Porno-Geschäftes, oder wie es an einer Stelle so schön heißt: "Erotik ist das Streicheln einer Muschi mit einer Hühnerfeder. Porno ist es mit einem ganzen Huhn."

In Wien wird das Hotel Imperial am Ring die neue Heimat von Ludwig und seiner Mutter. Ludwig erlebt die Reise in wacher Benommenheit. Die Besessenheit mit Mozart, Sisi und Klimt erdrückt ihn, schwarze Fiaker erinnern ihn an den Spruch: "Der Tod, das muss ein Wiener sein".

Und es ist auch der Tod, der Ludwig in Wien einen Besuch abstattet. Einerseits in Gestalt des Vaters, der ja Österreicher ist, und hier seine Spuren hinterlassen hat. Andererseits in Gestalt seiner Mutter, die nun schwer an Brustkrebs erkrankt ist.

Tommy Wieringa

GPD

Tommy Wieringa

Tommy Wieringa hat die besondere Begabung, mit wenigen Worten den Leser zu Tränen zu rühren. Sein Roman "Der verlorene Sohn" ist ein gelungenes Pendant zu seinem Werk "Joe Speedboat", das auch von einem beklagenswerten jungen Schicksal erzählt. In "Der verlorene Sohn" ist es allerdings um einiges intensiver. Mit viel Feingefühl schreibt Wieringa über den Kummer eines jungen Mannes, der seine Mutter nicht mehr will und seinen Vater nicht mehr haben kann.

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Aus den meisten sozialen Verbänden kommt man irgendwie heraus. Den Job kann man wechseln und Freundschaften kündigen. Mit der Familie sieht es da schon anders aus: Ludwig kann sich von seiner Mutter nicht losreißen. Ganz im Gegenteil sogar, seine Beziehung zu ihr ist allzu innig und verstörend. Auf jeder Seite scheint Ödipus in Leuchtschrift zu stehen.

Wieringa leistet aber Großes, da er in seinem Roman niemanden verurteilt. Weder die Mutter, die Pornostar ist, noch den Sohn, der dies allzu prüde verurteilt. In den berührendsten Szenen wandern die beiden über einen Rummelplatz, wo man angeblich seinen Namen auf ein Reiskorn schreiben lassen kann. Die Mutter bietet es dem Sohn an, er lehnt ab. Er sei doch kein Kind mehr. Nur um dann doch zu sagen: "Ich hätte doch gern so ein Reiskorn mit meinem Namen." Einmal Sohn, immer Sohn.