Erstellt am: 13. 11. 2010 - 10:10 Uhr
G'fickt für immer
Der amerikanische Drehbuchautor Ben Hecht soll sich in schlechten Zeiten von seinem letzten Geld den "Verfall und Untergang des Römischen Reiches in zehn Bänden" gekauft haben. Gänzlich ohne Arbeit und Perspektive hatte sich Hecht entschlossen, in seinem Bett auf die Wende in seinem Leben zu warten und zu lesen. Er wusste, dass er alles probiert und nichts gewonnen hatte, also hörte er auf damit und blieb im Bett. Während des fünften Bandes klingelte das Telefon. Der Rest ist eine mehr als erfolgreiche Hollywood-Legende.
Diese Geschichte hatte Betty immer gefallen. Die erfolglose Schauspielerin muss aber mit Bedauern feststellen, dass die deutsche Ausgabe von "Verfall und Untergang des Römischen Reiches" nur aus sechs Bänden besteht. Selbst das Schicksal scheint nun schon unter Druck zu stehen. Also beschließt Betty zu fliehen. Gemeinsam mit ihren Freunden Jon, Henning und Martha. Aber die Flucht der vier Freunde gestaltet sich genauso orientierungslos wie ihr ganzes Leben.
Von vier Freunden, die auszogen das Glück zu finden ...
Rowohlt
Lucy Fricke beginnt ihren Roman "Ich habe Freunde mitgebracht" mit einer Autofahrt. Martha fährt, Betty schläft am Beifahrersitz, Jon und Henning liegen blutverschmiert auf der Rückbank. Alle vier sind auf ihre Weise vom Leben gezeichnet. Bevor man als Leser noch weiß, wie diese vier Menschen miteinander in Verbindung stehen, wird auch schon unsanft in ihren Alltag geschnitten.
Henning ist Comiczeichner. Seit Jahren arbeitet er schon an seiner ersten großen Comic-Serie, genannt "Hoax". Der Held ist ein Programmierer, dem es nach einem Viren-Unfall möglich ist, wie in Tron in die virtuelle Welt einzusteigen. Er kann Geldflüsse abfangen, Flugzeuge zum Absturz bringen und Wahlen manipulieren. Was nach einer tollen Idee klingt, wird sogar veröffentlicht. Henning scheint am Beginn einer großen Karriere zu stehen. Zur rechten Zeit: Seine Frau Martha erwartet ein Kind. Auf einen Namen hat man sich auch schon geeinigt: Lupo. Martha kann finanziell leider nur wenig beisteuern. Sie moderiert im Radio, darf aber nur das Wetter vorlesen.
Wie jeder, der den Erfolg wie einen Strohhalm umklammert, geht Henning in den Comicladen, um "Hoax" selbst zu kaufen. Er würde überall zehn Exemplare kaufen, wenn es sein muss. Erfolg kommt schließlich nicht von allein. Doch der Laden führt gerade mal zwei Exemplare von "Hoax". Niemanden scheint das Comic zu interessieren. Es erregt nicht einmal soviel Aufsehen wie ein echter Hoax. Kauft Henning sein eigenes Comic, beeinflusst er zwar die Verkaufszahlen für den Verlag, aber auf seinem Bankkonto bleibt Ebbe. Wie soll er bitte ein Kind ernähren?
Betty und Jon geht es nicht viel besser. Beide sind Schauspieler: Sie hat ihren "größten" Auftritt auf YouTube, als sie gefilmt wurde, während sie am Filmset ausfallend wurde. Jon wiederum kommt über die Rolle der Leiche nicht hinaus. Während er zu trinken beginnt, verkriecht sie sich für mehrere Wochen in ihrem Bett, da das Arbeitsamt ihr ohnehin nicht helfen kann und ihr lediglich einen Halbtagsjob für 800 Euro brutto als Sekretärin anbietet.
Als Martha ihr ungeborenes Kind verliert, bricht das Private ins Berufsleben. Die vier Freunde beschließen ins Auto zu steigen und zu fliehen: vor ihrem eigenen Leben. Und überfahren sich dabei buchstäblich selbst. Nun setzt die Flucht fort, mit der der Roman begonnen hat.
Dagmar Morath
... und dabei kläglich scheitern
Betty, Jon, Henning und Martha arbeiten in den "Creative Industries". Als "Kreativwirtschaft" sollen sie in teils hybriden und vor allem prekären Arbeitsformen in Werbung, Film, Rundfunk, Fernsehen etc. innovative Ideen wirtschaftlich relevant umsetzen. Alles schön und gut. Doch die Probleme dieses Wirtschaftszweiges, der praktisch über Nacht aus dem Boden gestampft wurde, sind zahlreich: Managementdefizite, mangelnde Finanzierung und Kenntnis von Förderprogrammen sowie Schwierigkeiten bei der Vermarktung. Was dahinter steckt, sind oft junge Menschen, die glauben mit ihren Ideen und ihrem Talent die Welt aus den Angeln heben zu können, und dabei gegen mehr als nur eine Wand rennen.
Lucy Fricke, die lange Zeit in der Filmbranche tätig war, beschreibt in ihrem Roman "Ich habe Freunde mitgebracht", wie Menschen an ihren Träumen scheitern können. Wohin mit all dem Talent, wenn es keinen interessiert und es keine Stellen gibt? Diese Betonung des Kreativen hat auch Einfluss auf die Arbeitspraxis selbst. Arbeits- und Freizeit fließen ineinander, es gibt keine Pausen mehr, nur das ständige Hetzen nach neuen Aufträgen und das Sammeln von Honorarnoten. Während man also an einem Projekt arbeitet, muss man schon das nächste beantragen, das am besten schon fertig zu sein hat.
Weitere Leseempfehlungen:
Kommen zu den beruflichen noch private Probleme, dann hat man die Geschichte der vier Freunde in Lucy Frickes Roman. Das Buch ist fragmenthaft, die einzelnen Schicksale werden als Szenen beleuchtet (man merkt, dass Fricke vom Film kommt). Fricke schreibt sprachlich geschickt, mit leisen, ungezwungenen Pointen, wie man es schon von ihrem Debüt "Durst ist schlimmer als Heimat" kennt. Ihre Szenen sind wie ein Film noir, der da heißen könnte: "Und wir scheitern immer und immer schöner".
Das stärkste Bild dieses Romans ist Betty, wie sie sich in ihrem Bett verkriecht, um zu lesen. In Lethargie verfallen, sollen es doch andere für sie richten oder sie stirbt eben. Dass so ein Zustand auch zum Tod jeder Kreativität führen muss, ist der bittere Epilog.