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Boris Jordan

Maßgebliche Musiken, merkwürdige Bücher und mühevolle Spiele - nutzloses Wissen für ermattete Bildungsbürger.

7. 11. 2010 - 15:12

Song Zum Sonntag: The Strange Death of Liberal England

Des Meeres und der Dunkelheit Wellen: Lighthouse

"Jedermann weiß, was das Meer den Engländern bedeutet. [Der Engländer] sieht sich als Kapitän mit einer kleinen Gruppe vom Menschen auf einem Schiff, ringsum und unter ihm das Meer. Das Meer aber wird beherrscht, diese Vorstellung ist entscheidend. ... Die Schiffe sind einsam auf seiner ungeheuren Fläche, wie vereinzelte Individuen, personifizert in einem Kapitän; dessen absolute Befehlsgewalt ist unumstritten ... der Kurs, den er steuert, ist der Befehl, den er dem Meere gibt und nur seine mittelbare Ausführung durch die Mannschaft täuscht darüber hinweg, dass es eigentlich das Meer ist, das gehorchen muss ..."

So schreibt Elias Canetti über das "Massensymbol" der Engländer, das Meer, in seinem Hauptwerk "Masse und Macht", dem vielleicht besten politischen Buch, das je von einem Dichter verfasst wurde.

Bandfoto von "The Strange Death of Liberal England"

sirensound.com

Die Engländer sind also besessen vom Meer - ihre "inoffzielle Nationalhymne" behauptet nicht nur, dass England die "Wellen regiert", sondern auch dass deshalb "Briten niemals Sklaven sein werden".

So auch die Band "The Stange Death of Liberal England" aus Portsmouth (dem Hafen, von dem aus die Invasion auf die Normandie begann, nebenbei), die dem Meer eine ganze - ihre neue - Konzeptplatte gewidmet haben. "Drown your heart again" ist, laut einem netten kleinen Film, den die Band als "making of" gemacht hat (zu sehen auf ihrer myspace-Seite), eine Sammlung einiger Lieder über das Meer.

Elias Canetti: Masse und Macht
Die inoffizielle Hymne der Briten
Der kleine Film über "drown your Heart again"

Nachdem auch hierzulande mit dem gestrigen Abend der Sommer zu Ende gegangen ist, dürfen wir uns wieder in die herbstliche Melancholie werfen, die den Österreichern/Wienern ebenso oft als Grundgefühl zugeschrieben wird, wie das Beherrschen der See den Briten.

Und nun kommt pünkltich "Now we are young, but soon we will be old", die vielleicht pessimistischste Zeile des jungen Herbstes, in einem ähnlichen Gewand daher wie die traugigfroheste Hymne des letzten Jahres, "Winter Winds" von Mumford and Sons. Zu einem hektischen Walzertakt und zu hymnischer Steigerung von allerlei Chören und akustischen Instrumenten sucht hier eine dünne Jungsstimme nach einem Ausweg. Er scheint auf dem Meer zu sein, denn sein Unglück äußert sich darin, dass er den Wassenspiegel steigen fühlt, was er braucht ist ein Leuchtturm, der ihm klare Sicht verschafft, ihn nach Hause bringt und sein schweres junges Herz erleichtert. Man möchte ihm auf die Schultern klopfen und "wird schon wieder" sagen, aber zu gerne ist man selbst für drei Minuten der schwermütige Moribunde, der Hilfe und Heim sucht. Was für ein schönes Gefühl ist doch die Verzweiflung, und doppelt, wenn sie so druckvoll hymnisch kommt - und einen mit Dankbarkeit erfüllt dass man 1) an einer der besten Bands aller Zeiten, die verblichene Band of Holy Joy, erinnert wurde und 2) dazu gebracht wird, wieder einmal - gefühlt zum 50. Mal - in einem der klügsten Bücher überhaupt nachzulesen.

Über The Strange Death of Liberal England macht sich auch der geschätzte Wissenschafts- und Popjournalist Thomas Kramar in der Presse am Sonntag seine Gedanken.