Erstellt am: 7. 11. 2010 - 12:44 Uhr
Die Rückkehr zum Primitivismus
30 Jahre nachdem Elisabeth Badinter in ihrem Buch "Mutterliebe. Die Geschichte eines Gefühls" den Mutterinstinkt als Konstrukt der Neuzeit entlarvt hat, entdeckt die Philosophin eine Rückbesinnung auf das traditionelle Mutterbild. Den Zwang zum natürlichen Umgang mit dem Kind, es möglichst viel am Körper zu tragen, nach Bedarf zu stillen, mit ihm im selben Bett zu schlafen, bezeichnet Badinter als Primitivismus. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich eine Revolution in unserem Verständnis von Mutterschaft ereignet, schreibt sie in "Der Konflikt. Die Frau und die Mutter". Diese Revolution habe nichts Geringeres zum Ziel, als die Mutterschaft wieder ins Zentrum des weiblichen Lebens zu stellen.
So selten wie ein Mozart
Verlag C.H. Beck
Der Konflikt, der im Inneren der Frau zwischen ihrer Rolle als Mutter und jener als Frau tobt, werde durch die Erwartungen an die perfekte Mutter auf die Spitze getrieben. Das Kernstück dieser neuen Mutterschaft bildet das Stillen. Hier läuft Elisabeth Badinter sowohl wissenschaftlich als auch stilistisch zu Höchstformen auf: Unter der Überschrift „Der Kampf um die Milch“ hebt sie zu einem Rundumschlag gegen den weltweit agierenden Stillverband La Leche League an, deren - für Badinter zweifelhafter - Verdienst es sei, dass Organisationen wie die WHO Richtlinien für das Stillen verabschieden. Den Argumenten von Stillanhängerinnen, die die Muttermilch zu einem übernatürlichen Elixier stilisieren und ihr fast magische Wirkung zuschreiben, begegnet Badinter mit viel Ironie und einer gesunden Portion Sarkasmus. In jener hochemotionalen Debatte um das psychische Gleichgewicht von Kind und Mutter tritt eine rationale Wissenschafterin auf den Plan und hält den Argumenten der Stillverfechterinnen wissenschaftliche Studien entgegen.
Auch wenn die Leche League keine frauenmanipulierende Kampfstilltruppe ist, so war eine Kritik, eine Absage an die Alleingültigkeit des naturalistischen Mutterbegriffs längst fällig. Denn kein Mutterratgeber, kein Arzt, keine Gebärstation überlässt das Stillen der Entscheidungsgewalt der Mutter. Elisabeth Badinter ist die erste ernstzunehmende Stimme, die daran erinnert, worum es hier geht: um den Körper einer Frau. In "Der Konflikt" fordert sie schlicht und einfach, dass die Brüste der Mutter in der Verfügungsgewalt der Frau liegen.
"Mein Ziel ist es, den jungen Müttern zu sagen, dass es keine perfekte Mutterschaft gibt," sagt Elisabeth Badinter im Interview. "Wie durch ein kleines Wunder gibt es manchmal Frauen, die sich als sehr, sehr gute Mütter entpuppen. Aber ich finde, diese Frauen sind so selten wie ein Mozart. Wir, der große Rest, der überwiegende Teil der Frauen, sind durchschnittliche Mütter, wir haben unsere Grenzen."
Waschbar/Clever/Besser
Wie stark die Figur der natürlichen, umweltbewussten Mutter bereits in der öffentlichen Meinung verankert ist, zeigt ein Beispiel aus Wien: die Stadt schenkt werdenden Eltern einen Gutschein über 100 Euro für Mehrwegwindeln und wirbt dafür mit der markigen Ausrufskaskade Einfach waschbar! Einfach clever! Einfach besser! Ob clever oder besser, waschbar verursacht Hausarbeit, die nach wie vor zu 80 Prozent von Frauen geleistet wird. Nichts gegen ökologisch bewusstes Leben, doch Badinter weist auf die Folgen hin: In letzter Konsequenz führt die ökologische Kinderaufzucht – selbstgekochte Biobabynahrung inklusive – zu einer Rückkehr der Mutter an den heimischen Herd.
Laut Elisabeth Badinter ist die Kinderlosigkeit in Ländern wie Österreich oder Deutschland, im Gegensatz zum gebärfreudigeren Frankreich, auf das Erstarken des traditionellen Mutterbildes zurückzuführen. In Gesellschaften, die dem Individualismus frönen und in denen die meisten Frauen ihr eigenes Geld verdienen müssen, ist Mutterschaft grundsätzlich eine Herausforderung. In Gesellschaften aber, die im Gegensatz zur französischen, das Konzept der Rabenmutter kennen, führt das Anforderungsprofil der perfekten Mutter zwangsläufig zu Kinderlosigkeit. Und nachdem die naturalistische Philosophie über die Macht verfügt, Schuldgefühle zu erzeugen, so Badinters These, verzichtet man lieber auf Kinder, als an der perfekten Mutterschaft zu scheitern.
Eine der wenigen expliziten Forderungen, die Elisabeth Badinter in "Der Konflikt" stellt, betrifft eine grundlegende feministische Reform der Gesellschaft, der Politik, der Wirtschaft und vor allem der Männer, denn in erster Linie seien der Staat und die Mutter für ein Kind verantwortlich. "Über den Vater spricht man nicht", sagt die Philosophin. "Ich habe noch nie einen Präsidenten der Republik erlebt, der sich mit der seriösen Botschaft an die Männer wendet, hört zu, unser Familienmodell ist absolut anti-demokratisch. Wie kann man erwarten, dass die Frauen immer verfügbar sind und gleichzeitig leistungsfähig am Arbeitsplatz, das ist unmöglich!"
L´Indépendance!
Dass sich der Arbeitsmarkt in den letzten 30 Jahren wesentlich drastischer gewandelt hat als das Mutterbild, liest man bei Badinter nur zwischen den Zeilen. Dass eine Frau, die kurz nach der Geburt wieder arbeitet und ihr Kind zwischen Tages- und Großmutter jongliert, nicht unbedingt nach Selbstverwirklichung strebt, sondern ökonomischen Notwendigkeiten folgt und sich widerstandslos dem Arbeitsmarkt unterwirft, lässt sie außer Acht. Denn davon geht Badinter, die als geistige Erbin von Simone de Beauvoir gilt, nach einigen Jahrzehnten Frauenbewegung stillschweigend aus: Ungeachtet der Bedingungen am Arbeitsmarkt muss jede Frau auf eigenen Beinen stehen. Dazu sagt die nur folgendes:
„Es gibt ein Wort, das heute nie mehr gesagt wird, an das man junge Frauen aber erinnern muss. Es heißt Unabhängigkeit. Man muss die eigene ökonomische Unabhängigkeit bewahren, ohne Unabhängigkeit sind wir verdammt. Wenn jede zweite Ehe geschieden wird, muss man doch diese Freiheit bewahren! Wenn man seinen Partner nicht mehr liebt, wenn man ihn verachtet, schlimmer noch, wenn es Gewalt gibt, muss man die Möglichkeit haben, seinen Koffer zu packen, zu gehen und das eigene Überleben und das des Kindes zu garantieren. Ich bin verblüfft, wie sehr die heute 30-Jährigen das aus den Augen verloren haben.“