Erstellt am: 4. 11. 2010 - 12:17 Uhr
Friedliche Verdauung, Rauch und Rausch
Meine erste Begegnung mit Deerhunter werde ich nicht vergessen: Es war einer dieser Herbsttage vor knapp drei Jahren. Einer dieser Tage, die viel zu warm sind, an dem die Sonne noch kräftig scheint, an denen einem aber trotzdem schon hie und da ein kühler Windstoß um die Ohren wirbelt. Eine Zeit, in der man noch recht gut verdrängen kann, was man längst weiß, nämlich dass der Sommer des Jahres dem sicheren Ende zugeht. Ein Sommer, in dem man in schwüler Hitze des Nächtens an irgendeinem Gewässer mit Freunden getrunken, gelacht und bis in den frühen Morgen heiter über absurde Tiefsinnigkeiten palavert hat. Ein Sommer, in dem man das Gefühl hatte ganz nah dran zu sein am großen Ding, das sie "Leben" nennen. Es ist dieses Wehmütige, das einem an den letzten warmen Tagen subtil unter die Haut kriecht. Vermischt mit einer gewissen Freude und dem Wissen, dass man nichts für immer festhalten kann und nun etwas Neues anbricht. Eine neue Zeit beginnt.
Eine Zeit des Verabschiedens von alten Dingen, ein Loslassen. Ein Wechselbad zwischen Anspannung, Traurigkeit und Glücksgefühl. Als Deerhunter damals plötzlich vor mir auf der Bühne standen war Musik das, was sie im allerbesten Fall eben zu sein vermag: Der Soundtrack zum eigenen Leben, die Hintergrundmusik für eine bestimmte Zeit zur eigenen Geschichte. Ein möglicher Pfad durch innere Verstrickungen, ein Wegbegleiter in Form einer kleinen schwarze Scheibe, die sich immer weiterdreht.
Daniel DiScala
Deerhunter klingen genauso. Als ob man an einem Spätsommertag irgendwo im warmen Gras liegt und Musik von einer Kassette hört, deren Magnetband von der Hitze des vorangegangenen Sommers schon leicht angeschmolzen vor sich hin rattert. Musik wie man sie (besonders in letzter Zeit) gerne auch mal mit Titeln wie "Chillwave", "Dream Pop" oder "Glo-Fi" etikettiert. Wahlweise auch als "Ambient Punk", wie die Band es selbst am liebsten beschreibt. Irgendwie ist das natürlich eine müßige Geschichte mit derartigen Schubladen und Deerhunter schweben sowieso irgendwo zwischen den musikalischen Sphären herum, findet sich doch eine Vielzahl an Einflüssen in der Musik der 4-köpfigen Gruppe aus Atlanta:
Verstolperte Elektronik, ein The Jesus and Mary Chain-My Bloody Valentine-eskes Shoegazegitarrenrauschen. Krautrock. Eine Prise 60ies Pop. Breit aufgefächerte Ambientflächen. Verwaschene Loopmelodien. Weiß der Teufel was sonst noch. Immer an der Kippe zu neuen Abgründen, am schmalen Grat zwischen architektonisch anmutenden Noisegebilden und anschmiegsamen Melodien wandernd.
Am Record-Schalter ein gewisser Bradford Cox, mehr oder weniger absichtliches Zentrum der Band. Zwei Meter groß, spindeldürr und mit kantigen Gesichtszügen versehen und trotzdem mit einem kindlichen Gesichtsausdruck gesegnet.
Musik machen, das ist für Bradford Cox Ventil und Katharsis, ein Ausweg aus einem inneren Gefängnis und Wahnsinn. Leidet er doch seit seiner Geburt am Marfan Syndrom, einer genetisch bedingten Bindegewebsschwäche. Die ist nicht nur Schuld an seiner hageren Statur, sondern - was für Marfan-Betroffene weit schlimmer ist - auch für einen Herzfehler. Die meiste Zeit seiner Jugend verbrachte er in den engen, sterilen Räumen diverser Krankenhäuser. Als andere Kids im Sommer Parties feierten und mit ihren ersten Autos durch die Neighborhoods fuhren, lag er mit 16 Jahren einen ganzen Sommer lang auf der Intensivstation. Die einzige Zuflucht bot ihm eine selbsterschaffene Welt der Musik, angetrieben durch sein schwaches Herz.
Bei Deerhunter - eben auch auf der mittlerweile vierten Platte Halcyon Digest - lauscht man den Echos der längst vergangenen Jugendtage. Unerfüllte Träume treffen auf verstorbene Freunde, auf Ohnmacht und Angst. Oder wie es Bradford Cox in eigenen Worten sagen würde:
"...to a collection of fond memories and even invented ones, like my friendship with Ricky Wilson or the fact that I live in an abandoned victorian autoharp factory. The way that we write and rewrite and edit our memories to be a digest version of what we want to remember, and how that's kind of sad."
Da finden sich auf der aktuellen Platte Songs wie "He Would Have Laughed", in welchem dem verstorbenen Musiker Jay Reatard gedacht wird, einen aus Memphis, Tennessee stammenden Garage-Musiker, der im vergangenen Winter mit knapp 29 Jahren verstorben ist. Im Stück "Helicopter" findet sich eine tragische - auf Dennis Coopers 2004 erschienen Roman "The Sluts" - basierende Geschichte über einen russischen Prostituierten. Das alles hört man heraus aus den vibrierenden Schichten dieses musikalischen Daydream, den uns Deerhunter präsentieren und der in den buntesten musikalischen Farben schillert und dahin taumelt.