Erstellt am: 2. 11. 2010 - 19:32 Uhr
Freigänger im Knast
Der Bass wummert von irgendwo her, dazu gleißt eine künstliche Sonne. Doch wir sind nicht auf einer Party in der Feriendisco, sondern in einem Video, das im Rahmen der achten Ausgabe der Manifesta gezeigt wird. Vor der künstlichen Sonne wippen drei vom britischen Künstlerkollektiv Common Culture angeheuerte spanische Schauspieler in bunten Hawaiihemden und stellen die Vertrashtheit ihrer Version von Cocktail schlürfenden Touristen so deutlich aus, dass man schnell merkt, dass sie eben nicht Touristen sind.
Auch ihre gegen den stumpfen Discobeat ankämpfenden Unterhaltungen nehmen bald seltsame, im Wortsinn ver-rückte Formen an. Sie wechseln nämlich vom Disco-Blabla und den Einschätzungen nicht sichtbarer Dancefloor-Schönheiten abrupt zu brisanten ethisch-politischen Fragen. Zum Beispiel geht es darum, ob das gönnerhafte Interesse des Touristen an der örtlichen Kultur (übersetzt: das Begehren einer herbeigerufenen mobilen Eingreifgruppe namens zeitgenössische Kunst, die sich auf Biennalen wie auf Kommando auf die Bearbeitung von lokalen Konflikten und ungelösten Traumata stürzt) nicht selbst wieder eine koloniale Geste darstelle.
FM4 / Thomas Edlinger
Die Manifesta schlägt sich schon länger mit solchen verzwickten Problemen herum. Auf Zypern 2006 führte die hartnäckige kuratorische Insistenz auf die Thematisierung der politischen Teilung der Insel und ihrer Geschichte zu heftigem politischen Widerstand und schließlich zur Absage der Ausstellung. 2008 ging man dann auf Nummer sicher und platzierte die europäische Wanderbiennale in der wirtschaftlichen Boomregion Südtirol / Trentino. Immerhin ließen sich dort in imposanten architektonischen Relikten wie einem alten Postgebäude noch einige Spuren zum Verhältnis von Modernisierung, Industrialisierung und Faschismus freilegen.
Die Manifesta bevorzugt in ihrem politisierten Selbstverständnis als Biennale für junge zeitgenössische Kunst Regionen, die als neuralgische Brennpunkte der Diskursdauerbrenner zu Identität und Migration, Exklusion und Inklusion bzw. Überwachung und Kontrolle in der "Festung Europa" erscheinen. Zudem hat sie, sei es aus Mangel an bespielbaren regulären Kunstinstitutionen vor Ort, sei es aus programmatischer Überzeugung, auch ein Faible für "sprechende" Orte in diesen Regionen. So findet auch in Murcia und Cartagena wieder ein aufgelassenes Postgebäude als temporärer Kunstspeicher Verwendung. Dazu gesellen sich unter anderem noch ein prunkvolles altes Casino, zwei Artilleriebaracken und ein Autopsiepavillon (bespielt mit einem akustisch unheilsschwanger dräuenden und dann doch die Kanonenphalli der Befestigungsanlagen von Cartagena zart streichelnden Video von Laurent Grasso): durch die Bank atmosphärisch verdichtete Ausstellungslocations also, die mit dem ruinösen Charme der Moderne bzw. dem Reiz versunkener, bourgeoiser Interieurs kokettieren. Sie alle verblassen aber gegen das erst im Juni 2010 geschlossene und 1935 gegründete Gefängnis von San Antón in Sichtweite der Befestigungsanlagen des Kriegshafens von Cartagena.
FM4 / Thomas Edlinger
FM4 / Thomas Edlinger
Frei nach Foucaults Institutionenkunde der Disziplinargesellschaft könnte man sagen: Was vor zwei Jahren die Fabrik war, ist diesmal das Gefängnis. Im ehemaligen Kerker der Franco-Dikatur wird man von einem extra angeheuerten Mann in Uniform in den Zellentrakt geleitet, der exemplarisch das Dilemma einer inhaltistischen Fixierung auf ortsspezifische Bespielung vorführt. Am Ende lauert - gefährlich, gefährlich! - eine Bücherbarriere mit subversiv gemeinten Samples zur politischen Gewalt von Adorno bis Malcolm X, gestaltet vom Kollektiv Brumaria. In einer Zelle wird man doch auch noch beim Betreten mit einer überfallartig losknatternden, von allen Wänden auf einen herabstürzenden Video-Mash-Up aus Demo-Szenen und Polizeigewalt bombardiert. Zugeknallt, aber um keinen Deut klüger, wankt man zwei Türen weiter und betritt einen Raum, der fast nackt erscheint. Nur ein paar hingeschmierte Graffitis weisen darauf hin, wer hier eigentlich einsitzen (bzw. ausstellen sollte), nämlich "artists from northern africa only".
Natürlich ist dieser Aufforderung des im Rahmen eines Recherche-Projekts auch noch in Murcia als TV-Reporter mit Tropenhut namens "Colonel" herumlaufenden Thierry Geoffrey bislang niemand gefolgt. Aber da die Kunst ja kein Wunschkonzert ist, sagt auch das irgendetwas. Zum Beispiel erinnert diese Leerstelle an den von der Manifesta im Titel reklamierten "Dialog mit Nordafrika". Dieser wurde, so erzählt ein junger, politisch sehr engagierter Führer, von der spanischen Lokalpolitik auch heftig eingemahnt. Schließlich verkauft sich diese schon in Römerzeiten als zwischen Nord und Süd vermittelnde Grenzregion heute gern als kultureller Schmelztiegel europäischer und afrikanischer, christlicher und muslimischer Einflüsse. Und selbst die Proponenten einer politischen Abschottungsrhetorik müssen kleinlaut zugeben, dass die Region zumindest ein vitales ökonomisches Interesse an der Einschleusung von Migranten und Migrantinnen zur Ausbeutung als Billigarbeitskräfte in der extensiven Landwirtschaft hat.
FM4 / Thomas Edlinger
Zurück im Zellentrakt sieht man einige Wandgemälde, die viel Himmelblau hinter fliegenden Vögeln zeigen. Die raumgreifende Malerei (die als Medium in den regulären Positionen der Manifesta sonst kaum vorkommt) stammt von den ehemaligen Häftlingen selbst, und sie erzählt, so wie der Geruch des Punchingballs im noch zugänglichen Fitnessraum in einem der Gefängnishöfe, von Sehnsüchten - und dem Wunsch, kein Opfer (mehr) zu sein.
FM4 / Thomas Edlinger
Gegen soviel Aura des viel beschworenen nackten Lebens haben es besonders jene Kunstwerke schwer, die mit auratischem Geraune nichts zu tun haben wollen und sich dem nüchternen Dokumentarismus und den Mühen der Archivarbeit verschrieben haben. Hinter dem gespenstisch wirkenden Fitnessraum versteckt sich etwa noch eine erhellende Videoarbeit von Filipa César über Gemeinsamkeiten und Differenzen im Sprechen von israelischen und palästinensischen Filmstudierenden über ein gemeinsames Drittes. Im Gefängnis selbst bezeugt aber dann eine dürftig aufbereitete Medienstation mit Zeitungen und Radiofeatures, wie man es nicht machen soll, während in Murcia ein sauberer White Cube quasi die Rolle mit dem authentischen Staub des Gefängnisses tauscht und sich mit teils saalhohen Videoprojektionen in mehrstündiger Gesamtlänge zur Lage von Langzeithäftlingen als ortsspezifisch & engagiert auszuweisen versucht. Die Sammlung über den Alltag von Häftlingen zwischen drinnen und draußen von Nadja Prjla etwa will in brav repräsentationskritischer Absicht eine verfälschende "Außenperspektive" vermeiden - und vermeidet so vor allem eine schlüssige Form jenseits von didaktischem Bemühen.
Überhaupt scheitert hier, neben einigen wenigen deutungsoffeneren, dokumentarisch-essayistischen Arbeiten wie etwas von Willie Doherty über das Leben am Fluss in Murcia vieles aus Angst, einen Fehler, sprich eine markante Form zu riskieren. Das beginnt in den teils sich selbst blockierenden Kollektivismusvorgaben, die sich die drei beauftragten Kuratorenkollektive (sic!) Alexandria Contemporary Arts Forum (ACAF), Chamber of Secret Publics (CSP) und tranzit.org bzw. einige weiteren von ihnen subbeauftragte Kollektive machen. Zu viele Köche verderben manchmal wirklich den Brei. Die Probleme setzen sich, wie so oft bei Group Shows mit überfrachtetem Anspruch, bei die ästhetische Praxis teils verfehlenden Theorieansätzen, etwa zur Allerweltsformel Komplexität beim ACAF oder zur Überführung von Kunst in Kritik in und an Medien bei CSP, fort. Die tendenzielle Privilegierung der demokratischen (Selbst-)Reflexion vor dem kitschverdächtigen Werk führt hier oft dazu, dass im Zweifelsfall statt einer angreifbaren Setzung lieber das Scheitern einer Einigung oder das, was üblicherweise Ausstellungen vorausgeht, nämlich der Prozess gemeinsamer Entscheidungsfindungen, ausgestellt wird.
FM4 / Thomas Edlinger
In der aufgelassenen Post finden sich dann aber doch einige eindrucksvolle Positionen, die die Anstrengung solcher zum Informationsdienst eingedampften Displays konterkarieren. Der Beatboxer Kenny Muhammed und Adam Carrgian zeigen gemeinsam eine Videoprojektion über Beatbox-Gebete, Simon Fujiwara macht sich in einer ausladenden Installation über die Musealisierung eines gefaketen Riesenpenis-Funds aus prähistorischen Zeiten lustig. Erstaunlich auch die Kehrtwendung von tranzit.org: Während in Cartagena noch ein (mangels Konsens natürlich "produktiv" gescheiterter) ausgedruckter KünstlerInnen-Fragenkatalog zu einer "Verfassung für eine zeitgenössisches Display" als zentraler Ausstellungs-Antifetisch fungierte, setzt der erste Pavillon in Murcia mit traumwandlerisch verloren wirkenden Landschaftsaufnahmen und elegischen Klängen von Loulou Cherinet auf einen fast meditativen Auftakt. Später verdichten sich hier und im anschließenden zweiten Pavillon von tranzit.org die Momente, in denen tatsächliche ästhetische Erfahrungen möglich werden. Zum Beispiel solche, die vom Tanz mit aus den Ballerinas hervorgequetschten Mittelzehen bei Ruti Sela oder beim schwerelosen Gleiten des Blicks zwischen Utopie und Verfall im Video von Sung Hwan Kim ausgelöst werden können. Es sind Erfahrungen, die von der unauflöslichen Verbindung von Subjektivität und Gesellschaft, Freiheit und Zwang, Eigensinn und Macht wissen und gleichzeitig dieser Beziehung ein dadaistisch-absurdistisches Schnippchen schlagen. In diesen zufälligen Begegnungen von Politik und Subjekt am Schneidetisch manifestiert sich dann doch noch, was möglich sein kann auf einer Manifesta.