Erstellt am: 2. 11. 2010 - 04:14 Uhr
Imagine America
Christian Lehner
Stimmt schon, die Stimmung ist alles andere als gut, die Wirtschaft erholt sich nur langsam, die Arbeitslosigkeit ist hoch und lastet schwer auf dem Selbstbewusstsein des Landes. Millionen haben ihre Bleibe verloren und leben in neuer Armut. Der "Krieg gegen den Terror" kostet nicht nur Geld, sondern lässt sich auch nicht sauber führen (aber hallo!). All das relativieren bedeutet verharmlosen und verleugnen.
Christian Lehner
Allerdings ist die allgemeine Doomsday-Rethorik in Politik und Medien, die derzeit ohne große analystische Anstrengungen der Pros 1:1 von den ausländischen Medien weitergespielt wird, auch nur wenig hilfreich, den Problemen angemessen auf den Grund zu gehen. "But we live now in hard times, not end times", wie Jon Stewart am Samstag in der Schlussrede seiner Rally To Restore Sanity in DC der medial verstärkten Hysterie eine Abfuhr erteilte. Und hey, ein paar Millonen US-Bürger mehr sind jetzt krankenversichert. Eine Seite ist mindestens eine andere zu wenig.
Christian Lehner
Dass es ohne Panik, Populismus und Parteilichkeit geht, hat jedoch auch Stewarts Good Will Veranstaltung an der National Mall nur bedingt bewiesen. Dort versammelte sich einmal mehr ein Publikum, dessen gesellschaftliche Stellung es ihm relativ einfach macht, halbwegs vernünftig zu bleiben - auch wenn es für viele Junge derzeit nicht gerade proper läuft.
Christian Lehner
Wer sich an diesem Nachmittag als ausländischer Zaungast an dem zwar satirisch überhöhten, aber sehr wohl ernst gemeinten patriotischen Klimbim rund um die Veranstaltung gestoßen hat, vergisst, dass die große Mehrheit der Amerikaner, egal welcher politischen Zugehörigkeit, tatsächlich an die Grundwerte der Nation glaubt. Wähend sich in Österreich das nationale Selbstverständnis momentan ungut über die Ablehnung des Anderen zu definieren scheint, äußert es sich in den Staaten über eine stark empfundene, aktive Verbindung zur Verfassung. Ohne diese Liebe zur Nation hätten sich Stewart und Colbert wohl auch weiterhin in ihrem Satirehäuschen versteckt und nicht eine drohende Blamage vor der gesamten US-Öffentlichkeit riskiert.
Christian Lehner
Christian Lehner
Das Irritierende an den Tea Parties dieser Tage, die da die Stimmung vor den Kongresswahlen über den Siedegrad der üblichen Machtverschiebung hochkochen, ist, dass die, die für sich die Aufrechterhaltung der amerikanischen Grundwerte reklamieren den Minderheiten und dem politischen Gegner diese Grundwerte nicht mehr gewähren wollen. Der Fight der beiden traditionellen Lager und ihrer politischen Gefäße um soziale und individuelle Rechte bestimmt zwar seit Jahrzehnten die Gesellschaftspolitik dieses Landes. Doch die zur Zeit grassierenden Phobien erinnern inhaltlich mittlerweile an die Überfremdungsfantasien europäischer Rechtspopulisten. Doch: die USA sind ein Einwanderungsland und werden es auch weiterhin bleiben.
Christian Lehner
In einem beißenden Essay zum Thema verortet Steven Trasher in der Village Voice diese neue Qualität der kollektiven Frustration und Wut im Machtverlust des "weißen Mannes", der sich in wenigen Jahrzehnten in der Minderheit befinden wird. Assimilation ist allerdings nicht das Problem - es wollen ohnehin alle US-Amerikaner werden, die kommen. Was dem männlichen Babyboomer Angst macht und die Hegemonial-Maschine umfärben wird: es sind "Brownies", die in die Schlüsselpositionen drängen und keine "Whities".
Christian Lehner
Eine andere Vision dieses neuen Amerika hat sich für mich bei einem Besuch der Hauptstadt aufgetan. Das war vor zwei Wochen, als wir einen Freund besuchten, also noch vor Jon Stewarts verrücktem Aufmarsch der Vernunft. Es war ein herrliches Herbstwochenende in DC. Tausende Touristen. darunter Menschen aus allen Teilen der Staaten, wie man an den Akzenten hören konnte, spazierten über die National Mall. Sie mischten sich zu einer Menge der Vielfalt - nicht in verordnete Multikulti-Neigungsgruppen eingeteilt, sondern völlig selbstverständlich. Junge Asian-Americans plauderten mit WKII Kriegsveteranen. Besucher, deren Südstaaten-Akzent so breit war wie ihre Hinteransicht, machten am Lincoln Memorial Platz für eine US-Indische Familie. Latinos hockten neben African Americans und Weißbroten. Man merkte: manche hatten Geld, andere waren gebildet. Die einen waren jung, die anderen alt und viele noch ganz frische Americans. Mit Sicherheit waren da Reps, Dems und einige Independents wohl auch. Sie alle zogen rauf zu Abe Lincoln und studierten dessen in Stein gemeißelten Bürgerkriegsreden. Schüler machten Notizen und wirkten dabei alles andere als gelangweilt.
Christian Lehner
Ja, ja, ich weiß schon, das ist jetzt nicht repräsentativ und ein bisschen naiv ist es auch. Aber diese Diversität ist sehr wohl tagtäglich gelebte Realität in diesem Land. Und es ist eines der wertvollsten Assets für die Zukunft (Europa hat das noch nicht einmal als Option akzeptiert) - daran wird auch diese Wahl und die zu erwartende politische Ohnmacht nichts ändern.
Christian Lehner
Heute werden die Demokraten vermutlich das House verlieren, der Senate ist weniger gefährdet. Die Medien haben bereits Tage zuvor Nachrufe vefasst: Obama hat verloren, Change ist hin, Obama bleibt Präsident. Mehr als eine handvoll "Pundits" wird nach Washington ziehen und dort gefressen (so ein Moloch hat auch was Gutes) und der Struggle geht weiter. Jon Stewart ist trotzem überzeugt: "at the end, we’ll gonna be fine".