Erstellt am: 2. 11. 2010 - 13:31 Uhr
Musik-Fordismus vs. Autoren-Prinzip: Unentschieden
Das ist die schon zwei Zimmerservices lang versprochene Geschichte, die hinter den Witmark-Demos steckt, die Bob Dylan zwischen 1962 und 64 aufgenommen hat und jetzt in seiner Bootleg Series veröffentlichen ließ: eine Geschichte die das Ende einer Ära und den Beginn einer neuen Zeitrechnung beschreibt - und die mit ihrer Veröffentlichung just zum Zeitpunkt des Endes dieser Ära einen brisanten Zeithorizont öffnet.
Vergleiche dazu auch Kreativer Musiker sein und davon leben können? War nur ein kurzer historischer Zufall. Vergiss es! vom 15. September.
In der Zeit vor 1960 war das Musikgeschäft simpel und stringent organisiert: Es gab Musik-Verlage und Labels, die sich (wie früher Königs- oder Kirchenhauser) Musiker, Produzenten, Autoren und Interpreten hielten, die für eine kontinuierliche Musik-Produktion sorgen sollten; ganz fordianisch, vom Fließband. Jeder hatte seine Aufgabe zu erfüllen, wie in der Schraubenfabrik.
Auch damals wurde der Untergrund, wo wildwuchernde Außenseiter Musik machten und von der Darbietung lebten, ausgeplündert. Was gut ankam und sich übers rein lokale Phänomen durchsetzte, wurde ins System übernommen.
Die paar Renegaten, die sich nicht eingliedern ließen, die paar Folkies und Bluesleute, die Hillbillies und Jazzer, denen überließ man schmale Randzonen, die das Big Business nicht tangierten.
"Unlike most of the songs nowadays ..."
Das Zentrum des Big Business lag in Manhattan, New York City, auf der Höhe 50. und Broadway, in der Tin Pan Alley. Die hieß so, weil die Autoren so gnadenlos in ihre Schreibmaschinen droschen, dass es wie das Klappern von Bratpfannen klang, wenn man durchging. Dort enstanden die Produkte rund um die Musik, man verkaufte Notenblätter, später Tonträger, Live-Shows, und man machte die Stars, setzte Millionen um.
Barry Gordys Motown orientierte sich stark an dieser Tradition der Fabrik und der Arbeitsteilung. Und nicht einmal der 50er-Jahre Rock'n'Roll konnte dem System etwas anhaben: Elvis und Co wurden schnell domestiziert (und Leute wie Chuck Berry, die auf Autorenschaft bestanden, waren die krasse Minderheit), mit braven Songs von aalglatten Profi-Songschreibern.
Deshalb war es Anfang der 60er so wie immer: der junge Autor, der Songschreiber, trug seine Lieder zu einem Musikverlag, deponierte sie und wartete, bis sich der Verlag, eine Company, ein Management oder ein Gesangsstar meldete, der eines der Stücke aufnehmen wollte.
"... that are being written uptown in Tin Pan Alley..."
Der junge Bob Dylan war da keine Ausnahme. Auch er trug seine frühen Songs zu einem Verlag, nahm dort kurze Demo-Skizzen auf und hoffte auf Gefallen.
Die Kollektion, die Dylan beim großen Verlag Witmark & Sons aufgenommen hatte, ist jetzt erschienen, als Vol 9 der Bootleg Series: The Witmark Demos: 1962 - 1964.
47 Songs, roh aufgeschlagen, in teilweise noch unfertigen Versionen, mit noch provisorischen Texten. Von seinen allerersten eigenen Songs bis hin zu The Times They Are A-Changin' und Mr. Tambourine Man.
In genau dieser Zeit wiederfuhr aber genau Bob Dylan etwas, was das alte System in seinen Grundfesten erschüttern sollte: das Zusammenlaufen von Autorenschaft und Interpretation. Man könnte es auch die Ära des Authentischen nennen, die da begann - eine Phase, die nach dem gekünstelten Dauerlächeln der steifen 50er und von Doris Day/Rock Hudson geführten Früh60er geradezu zwangsläufig eintreten musste.
"...thats where most of the folk songs come from nowadays..."
Nicht nur die USA, ein großer Teil der Welt verlor in dieser Zeit den naiven Glauben an Unschuld, ewigen Fortschritt und Wachstum - sondern sah sich mit einer durch neue Kommunikations-Tools und neue politische Freiheiten (sowie durch das beharrliche Nachfragen einer ganzen Generation) instandegesetzt, Zusammenhänge über nationalistische Grenzen hinweg zu erkennen.
In der Kunst, vornehmlich der schnellsten, der Popkultur, bedeutete das, dass die Ära der reinen Interpreten, der Herrschaft der Puppets on Strings vorbei war.
Und genau die Songs, die der brave Autor Dylan zum Musikverlag Witmark getragen hatte, damit sie von Peter, Paul & Mary, Odetta, dem Kingston Trio, Judy Collins (die hier "Bob Dylan's Dream" interpretiert) oder Joan Baez entdeckt und interpretiert würden, wurde in seinen eigenen Interpretationen (die er kompromisslos und gegen jeden Ratschlag stark individualisierte und in großer Unerbittlichkeit setzte) zu den Hymnen einer neuen Bewegung.
"... this is a song, this wasn't written up there..."
Dylan hatte das System, dem er sich eigentlich noch recht brav unterordnen wollte (in seinen Chronicles beschreibt er sich in der frühen New York-Phase hauptsächlich als Lernenden, als Schwamm, der alles aufsaugt), geknackt.
Die Beat- und Blues-Bands, die zuvor noch Klassiker gecovert hatten (wie auch Beatles oder Stones) waren plötzlich in erster Linie Autoren, unabhängige noch dazu, die sich von Verlagen und Companies nichts sagen lassen mussten, demzufolge inhaltlich unkontrollierbar waren.
Der großen Konflikt quer durch Generationen, Klassen und Genres, der seit den 60ern gegen die "neue" Pop/Rock-Musik geführt wurde, war immer und in erster Linie ein Kampf der Industrie, die Kontrolle, die Herrschaft wieder zurückzuerlangen.
...this was written somewhere down in the United States."
Da im Musik-Biz, wie überall im Kapitalismus allerdings eine Sache immer alles overrult (der messbare Erfolg an der Kassa), ging dieser langwierige Kampf schlussendlich unentschieden aus.
Jetzt, 50 Jahre später, sind nämlich beide am Ende.
Die Musik-Industrie hat (durch die Verflüssigung ihrer Werte) das Produkt verloren. Die Autoren haben (wegen derselben Verflüssigung) ihre Lebensgrundlage verspielt.
Solange die Verlage und Labels Handfestes zu verkaufen wussten (das reicht von der Live-Show über die Massenware Notenblatt bis hin zur Massenwaren der Tonträger) waren sie in Besitz eines Produkts. In der digitalen Welt beschränkt sich die Bedeutung von Musik auf ein Nebenbei, auf ein Accessoire, das im Gesamtpaket enthalten ist.
Die Bedeutung des Autors als kultureller Anheizer, als Infragesteller, als Chronist, als authentischen Beobachter und kritischen Gesellschafts-Analytiker hat sich wieder in die früheren Randzonen verschoben.
Zitat aus dem Intro zu "Bob Dylan's Blues", 1962
Dafür ist die Bedeutung des Interpreten, der hohlen, mit den Erwartungshaltungen des Publikum zu befüllenden Außendarstellers, wieder gestiegen. In einer musikalischen Umgebung, in der Auffälligkeit und Beachtung die wichtigsten Währungen sind, kein Wunder. Dass diese Tendenz durch künstlerisch hochbegabte Piraten (wie Lady Gaga) verhöhnt wird, zeigt, dass sich der Autor immer irgendwie behaupten wird - trotzdem ist die Zeit seiner Herrschaft vorbei.
Nicht nur im Musik-Bereich.
Es ist wohl eher ein Zufall, dass die Witmark-Demos, die so sichtbar wie sonst nichts der Übergang der alten Welt der Musikfabriken in die neue Welt der Autorenschaft übergeführt hat, jetzt ausgerechnet zum nächsten zentralen Markierungs-Punkt in der Geschichte der Musik (wo sich sowohl Autorenschaft als auch der alte Fordismus von der großen Bühne verabschieden) veröffentlicht wird.
Bemerkenswert ist er allemal.
Bob Dylans "Ballad of Hollis Brown", ein bitteres Stück über den Kreislauf von Armut und Hoffnungslosigkeit.