Erstellt am: 6. 11. 2010 - 14:33 Uhr
Dinge, die wir heute sagten
Someday when I'm lonely, wishing you weren't so far away
Then I will remember things we said today
(The Beatles - "Things We Said Today")
Was haben die nur alle mit den Beatles? Die sind angeblich total wichtig. Ella hat nie kapiert, was an den vier Pilzköpfen so toll sein soll. Das ist doch Musik für alte Leute und sowieso kann sie nicht verstehen, warum sie sich überhaupt die Mühe gemacht hat, Kuchen zu backen für Romy und Paul, wenn sich die beiden dann doch nur am kalten Fliesenboden ihren Hintern abfrieren, während sie die Beatles-Platten von Ellas Eltern mit offenem Mund angaffen. Aber irgendwas findet Ella an Paul, der eigentlich aus Irland kommt und daher nur zu Besuch ist. Außerdem sieht er aus wie ein junger Paul McCartney. Soviel weiß Ella zumindest.
Natürlich spricht Ella nichts von ihren Ressentiments gegen die Beatles oder ihrem Faible für Paul wirklich aus. In dem kleinen Dorf Bresekow in Vorpommern lernt man bereits in der Schule, das man über manche Dinge nicht spricht. Und viel gibt es in so einem Kaff der ehemaligen DDR auch nicht zu bereden. Aber dann geraten doch einige Dinge in Bewegung.
Hello Goodbye
dtv
Alles beginnt, als die alte Anna Hanske stirbt. Wenn man so will, ist Anna Hanske die Else Kling des kleinen Dorfes und daher lässt ihr Tod niemanden kalt. Die Bewohner des Dorfes werfen vor allem ein Auge auf die zugereisten Verwandten der alten Hanske, wie ihren Adoptivsohn Peter aus Berlin oder ihre Tochter Ingrid aus Irland. Die bringt zur Unterstützung auch gleich ihren Mann Michael und besagten Sohn Paul mit, in den sich die Schülerinnen Romy und Ella bis über beide Ohren verknallen. Für Paul pilgern sie sogar gemeinsam zur "Elpe", einem heruntergekommenden Haus, in dem die Dorfjugend ihre Zeit totschlägt. Denn mehr gibt es nicht.
Vor allem Ingrid ist den Dorfbewohnern suspekt, hat sie doch ihrer Heimat den Rücken gekehrt, um im fernen Irland ihr Glück zu versuchen. So erklärt es sich auch, dass Ingrid dem Ort ihrer Jugend mit einer Mischung aus Misstrauen und Sehnsucht begegnet. Aber auch die Bewohner Bresekows dürften sehnsüchtig in ihrer Vergangenheit kramen, manche bereuen selbst nie den Absprung geschafft zu haben. Bresekow als fiktiver Ort muss für die ostdeutsche Schublade herhalten, für all die trüben und beengten Aussichten, die man entweder hinter sich lässt und fortgeht oder aus Gewohnheit fortsetzt. Die ehemalige DDR muss sich hier ihrem Trauma der ewigen Verdrängung anhand einer kleindörfischen Familiensaga stellen. Aber dieser Roman kann mehr als das triste und abgekaute Bild des ehemaligen Ostens wieder aufzunehmen.
Jungautorin Judith Zander, Jahrgang 1980, erzählt in poetischem Erzählstil von einem Dorf, das nicht einmal von seinen Bewohnern gemocht wird. Jede Passage wird aus der Sicht eines Protagonisten in der ersten Person geschildert. Teilweise wird hier der plattdeutsche Dialekt bedient, an manchen Stellen sogar als "Gemeinde" in Chor-Form, die ganz nach antiken Vorbildern kommentiert und ergänzt. Die Handlung setzt sich also aus den abwechselnd vorgetragenen inneren Monologen der Dorfbewohner zusammen. Einzige Ausnahme ist die zugereiste Ingrid, deren Passagen konsequent in der zweiten Person gehalten werden, um die Distanz zu ihrer Heimat auch sprachlich zu markieren. Der Titel dieses Romans ist jedoch irreführend: Der Schlüssel dieser Erzählung liegt im Ungesagten.
www.gezett.de
Let It Be
Denn hier lernt man einen Protagonisten nur kennen, wenn man zwischen den Zeilen liest, was ein anderer über ihn sagt oder eben nur andeudet. Ein Paradebeispiel ist die ungewollte Schwangerschaft einer Schülerin, die ihre Lehrerin um Rat fragt, dabei aber von "einer Freundin" spricht. Ein anderes Beispiel ist Romy, selbst Schülerin, die erfährt, dass ihr Vater womöglich nicht ihr leiblicher Vater ist, als sie ihre Eltern bei einem Gespräch belauscht. Die Protagonisten definieren sich also nicht durch Dinge, die jeder weiß, sondern durch solche, die einer vor dem anderen verschweigt.
Wenn man selbst nichts mehr sagen kann, bedient man sich eines anderen Mediums: der Musik. Und so sind es John, Paul, George und Ringo, die immer wieder zwischen den Passagen hervorspähen, um ihre Weisheiten in Form von Songtexten (wohlgemerkt: auf Deutsch übersetzt!) zum Besten zu geben. Aber nicht nur die Songtexte von "John und Paul" am Beginn einiger Passagen greifen in die Handlung ein oder schenken dem Roman seinen Titel. Die poetischen Räume der Beatles-Alben verweben außerdem das Leben und Leiden von vier Generationen. Schon zu ihrer Blütezeit ermöglichen die Beatles im früheren Osten einen Blick auf den Westen und eine Projektionsfläche für die Identitätskompensation der Jugend, die eine neue Kultur des Heranwachsens fördert. Jugendliche haben es plötzlich nicht mehr eilig erwachsen zu werden, obwohl es doch seit Generationen stets so war, dass sie es gar nicht mehr erwarten konnten. Und heute? In Bresekow will jeder Jugendliche raus aus seinem Leben. Die Beatles sind die Musik von Mama und Papa, und selbst Kurt Cobain lächelt nur noch nichtssagend von einem Poster an der Wand.
Robert Freeman
In diesem Roman findet ein Kampf gegen die Langeweile statt, der man früher anscheinend noch mit Musik entkommen konnte. In Bresekow weiß man als junger Mensch nichts mit sich anzufangen und kann dies auch nicht mehr artikulieren. Aber das ist nicht nur ein Problem der früheren DDR. Es ist ein Problem des kulturellen und wirtschaftlichen Kahlschlages, der auch hierzulande in ländlichen Regionen stattfindet. Logische Konsequenz ist die Flucht vor der Langeweile. Und nur weil man diesen Zustand dann medial ausschlachtet, verändert sich noch lange nichts. Die Autorin erzählt von einer Jugend des Stillstands, die sich nicht mehr mit Kurt Cobain und schon gar nicht mehr mit den Beatles identifizieren kann. Und sich so ihrem Schicksal, ewig in Bresekow festzusitzen, kampf- und vor allem sprachlos ergibt.
Weitere Leseempfehlungen:
Judith Zander, die selbst aus einem kleinen Dorf namens Anklam stammt, gelingt mit "Dinge, die wir heute sagten" ein Debüt, das es zu Recht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat und auch beim Bachmannpreis 2010 hervorragend abschnitt. Als Leser braucht man aber viel Geduld und am besten Block und Bleistift, um die verschachtelten Monologe und ihre Zusammengehörigkeit zu entschlüsseln. Auch der plattdeutsche Dialekt an manchen Stellen schreckt etwas ab. Es ist kein einfaches Buch. Wenn man aber die Beatles mag, macht der Roman sicher mehr Spaß. Sonst gilt: "Wenn all die unglücklichen Menschen auf der Welt sich verständigen, wird es eine Antwort geben: Lass es sein."