Erstellt am: 29. 10. 2010 - 18:13 Uhr
CMJ Music Marathon 2010
Teil 1: The CMJ Music Marathon Picture Show
Über-Flüssig?
Der CMJ-Music Marathon in New York ist die alljährliche Querschnittmenge aus Rip Off (überteuerte Festivalpässe, die nicht einmal den Zutritt zu den Veranstaltungen garantieren), Fake (Sign Up Policy, lahme Panels und Werbeveranstaltungen statt Diskurs und Wissensvermittlung) und tatsächlich genialen Momenten (free Daytime Shows, Networking und - well - Gigs!).
Aber was bringen Talente-Festivals wie SXSW oder der CMJ wirklich (noch)? Wenn das A&R Schnuppern, die Hype-Maschine und der Fan-Kontakt zunehmend im Netz passieren - warum noch drei mörderisch unbeachtete Festivalgigs pro Tag spielen, während sich die (Neo)-Industrie hinter verschlossenen Türen bei VIP-Parties mit Sponsorensprudel vollaufen lässt und die Sensationen der letzten Saison eben dort mörderisch unbeachtete Gigs spielen?
Christian Lehner
Antwort: viel, alles, muss sein. Ein Paradox dieser unserer Verhältnisse im Pop-Wonderland 2010 ist, dass dem Nachwuchshengst gar nichts anderes übrig bleibt, als durch jedes noch so abgelegene Blogdorf zu galoppieren und auf die einschichtigsten Bühnen zu springen, wenn man hier wirklich mitmischen will. Streuung ist alles. Live ist alles. Irgendwo hängt sicher ein Multiplikator in den Seilen, an der Tränke, vielleicht sogar aufmerksam zuhörend im Publikum. Das ist bisweilen frustierend und auf alle Fälle mächtig anstrengend. Doch plötzlich schält sich ein Name wie Dom aus dem Dickicht der Zillionen Blogeinträge und des Festival Tratsches. Ob es dann auch tatsächlich klappt, ist wieder eine andere Frage. Im konkreten Fall des CMJ der letzten Jahre ist mir bloß die Band Passion Pit in Erinnerung, die als kommendes Talent angekarrt wurde und als bleibendes Talent gegangen ist. Die protzende Festival Vita weist in ihrer Chronologie auch noch R.E.M., Nirvana und Arcade Fire aus. Aber das waren bekanntlich noch andere, anlogere Zeiten. Klar ist, dass sich die Funktion dieser Festivals gerändert hat - vom Breaker zum Geschmacksverstärker, Aussieber und vielleicht noch Industrie-Vernetzter.
Turf Wars
Überschattet wurde die 30-Jahre-Jubiläumsauflage des "CMJ - Music Marathon And Film Festival" von einem Beef dieser privaten Organisation rund um die US-College Radio Szene mit einem anderen Heavy Weight in Sachen Indie. Gut eine Woche vor Festivalbeginn kündigte Pitchfork Media eine eigene Konzertserie für den Zeitraum des CMJ an. Das nicht unprovokant als #Offline-Festival betitelte Pitchfork Baby bediente sich großteils und ziemlich praktisch bei den Künstlern, die aufgrund des CMJ eh schon in der Stadt waren. Und da das Online-Musikmagazin mit Sitz in Chicago mittlerweile auch als einer der potentesten Veranstalter und Booker der US-Szene gilt, folgten so ziemlich alle gefragten Artists dem Lockruf des No. 1 Indie Tastemakers. Connor Hanwick von The Drums hat das etwas anders formuliert: "You don’t wanna cross their way". Obwohl alle Beteiligten gute Mine zum bösen Platzhirschenspiel machten (Pitchfork berichtete täglich über den CMJ-Marathon, CMJ reagierte gar nicht) war nicht nur Zach Baron von der Village Voice davon überzeugt, dass es sich hier um eine Kriegserklärung handelt. Pitchfork geriert sich als neuer Königsmacher und setzt den schweren Fuß auf New York. Im Hintergrund geht es wohl auch um Sponsoren- und Werbeverträge und Booking-Deals. Die Zeiten, sie waren und sind dann doch wohl nicht so anders.
Christian Lehner
Gigs Gigs Gigs
Christian Lehner
Lower East Side: Die Artist-PR Agentur mit dem schönen Namen Terrorbird hat zum Gratis-Showcase in die Katakomben des Cake Shop geladen. Will Wiesenfeld aka Baths mag auf Platte laut eigener Aussage für "hochemotionalen, schwulen Pop" zwischen Sensibilität und vertrackter Beat-Meierei stehen, live ist der junge Kalifornier eine Rave-Wucht, die den Cake Shop an der Ludlow Street bereits am Nachmittag in ein mitternächtliches Party-Gym verwandelt. Der MPD32 Akai Controller ist Wills Ravehörnchen, das er mit selbst komponierten Samples und Sounds aus dem Laptop füllt. Mit rasanter Handtechnik rockt Baths das Mixing Board. Dazwischen wird noch ein bisschen ums nackte Leben gesungen. Wir staunen und stampfen. Next on the bill: Marnie Stern. Die Wucht geht weiter. Will Wiesenfeld ist Marnie’s "drittgrößter Fan" und sichtlich gerührt, dass er erstmals eine Bühne mit der anti-virtuosen Gitarren-Queen teilen darf. Stern, die vor kurzem ihr neues, namenloses Album veröffentlicht hat, demonstriert auch live, dass die schwindelerregende Technik des Tapping nichts mit dem perfekten Anschlagen und Abgreifen von möglichst vielen Noten zu tun haben muss. Marnie, die "Diva with a little d", setzt sich über ihre hypernervöse Musik dem Publikum aus, greift manchmal grinsend daneben, crackt Vagina Jokes, und weiß dennoch mit einer völlig underben Art zu berühren. "Der Zuspruch ist die Ausnahme", meint sie später im FM4-Interview draußen auf der Ludlow Street. Dann zieht sie weiter ins Santos Party House zum Stereogum Showcase.
Christian Lehner
Ich eile zu einer geschlossenen Veranstaltung an der Bowery. Gratis-Bar + kleine Bühne + desinteressierte VIP-Gäste = Verschwendung. Doch das hat auch was Gutes. Der hohe Schwallpegel und die knapp bemessenen Auftrittszeiten werden durch den Luxus eines quasi privaten Gigs mehr als wettgemacht. In kurzer Abfolge taumeln sie auf die Bühne und benötigen gut zwei Mal so lang für den Auf- und Abbau als für die Auftritte. Die Exil-Dänin Nanna Øland aka Oh Land, die mit "Son Of A Gun" gerade den Sender eures Vertrauens erobert hat, eröffnet. Sie ist gekommen um zu beindrucken. Leider mutet das in der Umsetzung etwas zu bemüht und verbissen an. Der Tower aus Elektroschlagzeugen und Luftballons, den Oh Land in die Mitte der Bühne gerückt hat, dürfte aus Ulkland importiert sein. Sie vergeht sich daran wie an einer zu erstürmenden Festung, bearbeitet und zerwirbelt ihr Set mit überdimensionierten Drum-Sticks. So bleibt vom Auftritt ein vor allem visuell irritierender Eindruck. Fazit: ohne Gimmik aus dem Elfenland geht für Elektro-Popdamen im Moment scheinbar nix. Abrüsten!
Christian Lehner
Als nächstes werden Trompeten und Keyboards gestimmt. Der galante Matthew Dear breitet seinen dunklen Tech-Pop über uns aus. Synkopen tanzen Loops. Mit wippendem Körper dirigiert der Detroiter seine Live-Band. Beim Schlussstück Little People, diesem großartigsten Song des Jahres (nix da Caribou!), fährt dann der Leibhaftige in den Crooner. Ein Zittern, ein Schütteln, Dear ist ist nicht mehr zu halten. Die zweite Live-Sensation des Abends. Hernach wird er reudig. Die Wavves trudeln ein. Eine Stunde davor haben sie im Madison Square Garden bei der Headliner Show des Festivals für die Dirty Projectors und Phoenix eröffnet. Der Ausflug nach Midtown hätte sich auf alle Fälle ausgezahlt, denn wie aus der Torte gesprungen haben Daft Punk ein Überraschungsset gespielt, in voller Montur und "Around The World". Die Frage, wie es denn im Garden gewesen wäre, beantwortet Neo-Wavves und Ex Jay Reatard Bassist Stephen Pope mit einem halsabschneiderischen Grinsen. Eingestöpselt und aufgebiert springt die Truppe um den erratischen Nathan Williams auf die Welle und surft breitbeinig durch die Reihen der versammelten Wichtigschaft. Die Vivian Girls im Publikum klatschen mit der Bierflaschen. Eine Drogencocktail beeinträchtige PR-Dame wundert sich über die optische Verwandlung des Two Door Cinema Club. Die Wavves haben Spaß und spielen ein sehr druckvolles, ohrensausendes Set. Dann tatsächlich der Two Door Cinema Club. Plötzlich sind die VIPS weg. Dafür setzt es eine Invasion der irischen Community. Diese Band hat viele Freunde hier im grünen Big Apple. Jetzt brummt der Laden. Die kleeblättrigen Sentimentalitäten aus dem Text-Ressort werden vom Two Door Cinema Club mittels präziser und intensiver Bearbeitung diverser Saiteninstrumente einfach weggerockt. Very nice.
Christian Lehner
Am Folgetag mit Rauschen im Ohr zum Gig einer der interessantesten Bands des diesjährigen Marathons. Ava Luna aus Brooklyn sind ein Kollektiv, das aus vielen Stimmen und Elektronik vertrackten Soul und Indie Pop zwischen Jamie Lidell, Beck Hansen und den Dirty Projectors destiliert. Das klingt beim Neon Gold/Chess Club Showcase im Public Assembly in Williamsburg erfrischend anders und erfrischend gut, obwohl die Mikros überhitzen, die Keyboards abschmieren und ich bloß die letzten zwei Songs mitbekomme, weil ich auf der Hauptbühne Zeit beim Soundcheck von Spark aus dem UK verschwende. Ava Luna sind noch labellos und suchen gerade eine Auftrittsmöglichkeit für den 18. Dezember in Wien, wenn sie eine kurze Tour erstmals nach Mitteleuropa führen wird. Den Namen sollte man sich auf alle Fälle merken.
Christian Lehner
Apropos, da ich merke, dass diese Wurst hier schon wieder endlos wird, überspringe ich die Sets von Violens im Pianos und den Paw Tracks Showcase sowie die Jungs von Everything Everything und zerre Euch nach Park Slope in Brooklyn. Dort, im South Paw, hat sich das berüchtigte Partymonster Darren Mabee gerade negativ über den CMJ-Music Marathon ausgelassen. Davor ist er wie ein überdimensionierte Gummiball durch die Venue gebounct, weil "Azz Everywhere" das gar nicht stillgeheime Motto dieses vom Bust-Magazin gehosteten Abends war. Eröffnet wurde die große Arschwackelei von Dominque Young Unique aus dem Yo Majesty Umfeld in Florida. Überaffirmation, Hypersexualität, Selbstermächtigung, Gender-Bouncing. Man kann sich als weißsemmeliger Stirnfaltenrunzler mit bürgerlichem Hintergrund über Bounce, diese rasante Auslegung von Hip Hop im Süden der USA, viel Erklärungsschwangeres zusammendeuteln. Derweilen wabbeln Popschis frech im Rythmus - auf der Bühne und im Publikum. Der Hauptact Big Freedia "The Queen Diva" aus New Orleans, erklärt die Stage kurzerhand zum Whirlpool des horizontalen Ausdrucktanzes. Bald zucken die Leiber über die Bretter. Dazwischen der zarte Hühne, das immer wieder das Motto des Abends skandierend "Azz Everywhere!". Davor und also dazwischen errichtete das Sample-Duo Javelin eine Wand aus alten Ghettoblaster. Auch das Set der beiden Brooklynites verdient das Prädikat: Sturm & Drang. Wenn ich mich bloß an die Musik erinnern könnte, means: best party ever!