Erstellt am: 1. 11. 2010 - 13:24 Uhr
Angel with a Dirty Face
"It's just a fond farewell to a friend, who couldn´t get things right."
(Elliott Smith - "A Fond Farewell")
Am 21. Oktober 2003 wird der US-Songwriter Elliott Smith mit zwei Messerstichen in der Brust in seinem Haus in Los Angeles tot aufgefunden. Entdeckt wird die Leiche nur wenige Minuten nach der Tat von Smiths Lebensgefährtin Jennifer Chiba. Bei der Polizei gibt sie zu Protokoll, dass sie sich nach einem heftigen Streit mit Smith ins Badezimmer eingesperrt hat. Nachdem sie die Badezimmertür geöffnet hat, findet sie die blutige Leiche und neben ihr ein Post-it mit der kurzen Nachricht: "I'm so sorry - love, Elliott. God forgive me".
Was nach Selbstmord aussieht, wird vom Autopsie-Bericht in Frage gestellt. Suizid sei bei Smith, der jahrelang mit Depressionen zu kämpfen hatte, zwar durchaus möglich, aber aufgrund der Einstichwunden mitten in den Brustkorb und durch die Kleidung hindurch nicht eindeutig bewiesen. Bis heute ist unklar, ob Elliott Smith nicht doch ermordet wurde.
Paul Hartfield
Die Ereignisse des 21. Oktobers hängen wie ein düsterer Nebel über meiner Plattensammlung. Und nicht nur über meiner: Die Außenwand des Solutions Audio Studios, die auf dem legendären Cover von Elliott Smiths letztem Album "Figure 8" zu sehen ist, wurde ähnlich der Abbey Road zu einer Pilgerstätte für Fans umfunktioniert. Dieser Tage erscheint nun auch eine "Introduction to Elliott Smith" auf CD. Vierzehn Stücke von Smiths Studioalben, die an einen der begabtesten Songwriter erinnern sollen.
Andrea Micheloni / www.tankmiche.com
Everything means nothing to me
"For someone half as smart, you'd be a work of art"
(Elliott Smith - "Baby Britain")
Kill Rock Stars
Die "Introduction" ist schnell resümiert. Sie ist keine klassische "Best Of"-Compilation, sondern tatsächlich eine Einführung, die aber lediglich eine subjektive Auswahl an Stücken darstellt. Über die Tracklist kann man also streiten. Außerdem ist sie Teil des posthumen Wiederbelebungsprozesses von Smith, der bereits 2004 mit der Veröffentlichung von "From a Basement on the Hill" anfing und mit der B-Seiten-Doppel-CD "New Moon" und der digitalen Aufpolierung seines Debüts "Roman Candle" fortgesetzt wurde.
Die "Introduction" soll daher vielmehr als Anlass dienen, sich an das unglaubliche Talent von Elliott Smith heranzutasten. Wie kein anderer ist Smith Anfang der 90er das stille Gegenstück zur Grunge-Ära. Seine Markenzeichen sind das virtuose Gitarrenspiel und die engelshafte, gehauchte Stimme, die er immer wieder mit beatlesquen Harmonien verbindet. Seine Rockband Heatmiser gerät rasch in Vergessenheit, als seine ersten Soloalben "Roman Candle", "Elliott Smith" und "Either/Or" erscheinen: Stille Akustikwerke, die Smith aus heutiger Sicht fast schon amateurhaft mit einem 4-Track-Rekorder aufnimmt, deren Songs wie "Needle in the Hay" aber durch Filme wie Wes Andersons "The Royal Tenenbaums" ein Millionenpublikum erreichen.
Ein Film ist es auch, der das Leben von Elliott Smith schlagartig verändert. Der Songwriter wird dank Gus Van Sants "Good Will Hunting", aber gegen seinen Willen, ins grelle Rampenlicht geworfen. 1998 folgt für den Titelsong "Miss Misery" sogar eine Oscar-Nominierung und die wohl bitterste Erinnerung, die ich an Smith habe. Völlig surreal steht er da im weißen Anzug auf der Bühne der Academy Awards, seine fettigen Haare fallen ihm immer wieder ins Gesicht. Er wirkt völlig deplatziert und nicht zugehörig. An diesem Abend soll er nicht gewinnen. Es gewinnt "My Heart Will Go On" von Celine Dion. Vor seinem Tod sagt Smith in einem Interview: "Ich glaube, ich bin die letzte Person auf der Welt, die berühmt werden sollte."
I Didn't Understand
"I'm never gonna know you now, but I'm gonna love you anyhow"
(Elliott Smith - "Waltz #2")
In diesen paar Minuten, die er auf der großen Bühne der Academy Awards stehen durfte, wurde für alle sichtbar, dass Elliott Smith ein Getriebener war. Sein großes Talent wird zu Lebzeiten immer wieder von Drogen und Alkohol und schließlich von Depressionen überschattet. 1998 dürfte er aber alles noch im Griff haben, legt er doch mit "XO" sein wohl bestes Album vor. Legendär sind Songs wie "Waltz #2", "Bottle Up (And Explode)" und "Baby Britain". Mit "I Didn't Understand" nimmt er die beste Hommage an die Beatles auf, die je ein Musiker vollbracht hat. Kaum jemand konnte seine eigenen Dämonen so schön greifen, so herrlich emotional in Musik transportieren, wie er. In "Between The Bars" lässt er seinen besten Freund, den Alkohol, zu Wort kommen: "Drink up with me now/And forget all about the pressure of days/Do what I say and I'll make you okay". Seine Abgründe begleiteten ihn ständig und in seinen Songs dürfte Elliott Smith begriffen haben, dass er immer mehr die Kontrolle über sein Leben abgab.
"Figure 8", das letzte Album, das Elliott Smith zu Lebzeiten veröffentlicht, ist mit seinem Reichtum an ornamenthaften Arrangements ein Schritt weg vom stillen Songwritertum und hin zu üppigen Pop-Melodien. Songs wie "Son of Sam" oder "Wouldn't Mama Be Proud" zeigen dadurch auch die vielen Talente von Elliott Smith, der fast alle Instrumente selbst einspielt. Allerdings ist "Figure 8" bereits vom äußerlichen Verfall des Songwriters überschattet. Bei Konzerten hat Smith immer öfter Hänger und Aussetzer beim Sprechen, vergisst Textstellen und wird sogar ausfallend.
Umso erschreckender, umso verstörender ist das posthum veröffentlichte "From a Basement on the Hill". Von Smith eigentlich als Doppel-CD konzipiert, werden 15 Stücke von Freunden und Familien überarbeitet und veröffentlicht. In dem Song "A Fond Farewell" scheint es, als würde Smith von sich selbst sprechen, wenn er von einem Mann nahe dem Suizid erzählt, der in der Küche erbricht. Und dann sind da Songs wie "Twilight", dessen Bridge zum Schönsten gehört, das mir in der Popmusik je untergekommen ist. Oder "King's Crossing", das mit all den textlichen Assoziationsfetzen und seiner Wucht Zeitgeist und Biographie verbindet: "I can't prepare for death any more than I already have". Ergreifend ist die Stelle, in der Smith singt "Give me one good reason not do it" und seine Freundin Jennifer Chiba im Hintergrund kaum hörbar flüstert: "Because I love you". Smiths Antwort: "So do it". Wenn Elliott Smith vor seinem Tod wirklich so klingen wollte, hat er sich damit selbst übertroffen.
Nach seinem Tod lässt es sich leicht analysieren. Das medial verbreitete Klischee der zerbrechlichen Seele, die von den Süchten psychisch und später auch physisch gebrandmarkt wurde, greift jedoch zu kurz. Man muss sich damit abfinden, dass man nie Antworten bekommen wird, woran dieser Mann, den ich bewusst als "Genie" bezeichnen möchte, wirklich zerbrochen ist. Was aber bleibt, ist ein musikalischer Katalog, den man schwer in Worte fassen kann. Smith hat viele Musiker nach ihm beeinflusst und eigene Maßstäbe gesetzt. Sein Wiedererkennungswert ist enorm. Und auch sein Oscar-Auftritt wurde posthum gewürdigt: The Swell Season haben ihren Oscargewinn für "Once" dem Mann aus Portland gewidmet.
Für mich wird Elliott Smith immer einer der größten Songwriter aller Zeiten bleiben. Die nun erscheinende "Introduction" kann hoffentlich dazu beitragen, dass das noch viele andere so sehen. Larry Crane, Freund und Smith-Archivist, hat versprochen, dass auch eine Menge unveröffentlichtes Material früher oder später das Tageslicht sehen wird. Mir soll es recht sein. Von solch einem großen Talent kann man auch über den Tod hinaus nicht genug hören: "And you painted pictures of a Never-Never Land/And I could've gone to that place/But I didn't understand".